Architektur - Einblicke in die Welt des Wissens, Ausblicke weit über Heilbronn hinaus: Als Raumspirale windet sich der von Sauerbruch Hutton entworfene Bau in die Höhe.
Heilbronn Die Experimenta in Heilbronn ist ein Entdeckerort; ein Haus, in dem Kinder, Jugendliche und Erwachsene den Dingen dieser Welt auf den Grund gehen können. Seit zehn Jahren lädt der Hagenbucher Speicher auf der Kraneninsel zum Forschen und Experimentieren ein – statt der erwarteten 100 000 Besucher jährlich kamen zuletzt 180 000 in das Science Center. Deshalb ist nun ein zweites Entdeckerhaus neben dem Backsteindomizil, das jetzt E 1 heißt, hinzugekommen, ebenfalls ermöglicht von der Dieter-Schwarz-Stiftung. Das E 2 ist ein zeichenhafter, in Weiß- und Grautönen schimmernder Körper, der signalisiert: Hier geht es um Technik, Wissen, Innovation!
Mit seinen aufeinandergestapelten Stahl- und Glasschichten, die leicht zueinander verdreht sind und nachts wie ein Leuchtturm strahlen, hat der Bau etwas von einem überdimensionierten Rubik-Zauber-Würfel, der noch seiner Lösung harrt. Die dynamisch-spielerische Form des Erweiterungsbaus mit seinem fünfeckigen Grundriss kontrastiert mit dem rational-statisch anmutenden Klinker-Kubus des Altbaus; zwei sich wie Yin und Yang ergänzende Varianten von architektonischer Konstruktion und Ingenieurlogik, die eine großzügige Piazza verbindet.
Die Berliner Architekten Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton haben ihrem Siegerentwurf eines internationalen Wettbewerbs eine Entdecker-DNA mitgegeben – logo! Der Weg durchs Haus windet sich vom weitläufigen Foyer mit Empfangs-Inseln und Shops als Spirale bis zur Dachterrasse in die Höhe und lädt zu einer Entdeckungsreise ein – das neue Experimenta-Logo spiegelt diese Idee wider. An beiden Enden der Promenade warten Ausblicke weit über Heilbronn hinaus: Im Untergeschoss kann man im Science Dome mit seinem Kuppel-Screen 3D-Weltraumfahrten unternehmen oder kaleidoskopisch bunte Laser-Fantasiewelten erleben; auf dem Dach erlauben Sternwarte und Teleskope das Studium des Universums.
Matthias Sauerbruch spricht bei der Architektur-Preview am vergangenen Wochenende von einem „Kalvarienberg des Wissens“, wobei das vielleicht die nicht ganz passende Metapher ist, denn mit Leidenserfahrung hat das Erlebnis des Gebäudes ganz und gar nichts zu tun, im Gegenteil: Die klare, kraftvolle architektonische Struktur ist ein Genuss. Schnell erfasst man den binären Code, den die Architekten ihrem Solitär implantiert haben – Offenheit und Introvertiertheit.
Die transparenten Teile machen den Neubau zum Panoramaturm: Weil die verglasten Zonen der Promenade von Etage zu Etage zueinander versetzt sind, rückt auf jeder Ebene ein anderer Ausschnitt von Stadt, Wasser und Landschaft in den Blick. So sieht man mal hinüber zum historischem Rathaus und zur Kilianskirche, mal erblickt man den Wilhelmskanal, mal in der Ferne die Weinberge, dann wieder liegen das Bahnhofsgelände, die Neubauten und Parklandschaften der Bundesgartenschau und der neue Bildungscampus vor einem. So erlaubt das E 2 nicht nur die Welt des Wissens, sondern auch die Stadt Heilbronn zu entdecken. Die Etagen sind mit knapp sechs Metern Höhe extrem luftig. Überhaupt mutet alles in diesem Gebäude mit seinen rund 18 000 Quadratmetern Fläche hoch, weit und äußerst kraftvoll an – so etwa auch die Rottöne für die innen liegenden Wände, die sich von einem Dunkelrot im Untergeschoss bis zu einem leuchtenden Orange im vierten Stock nach oben hin aufhellen.
Die Offenheit des ansteigenden Belvedere kontrastiert mit den introvertiert gehaltenen Themenwelten: Auf jeder Ebene lagert sich ein u-förmig angelegter Parcours mit Spiel-, Experimentier- und Mitmachstationen an. Hier sind die ummantelnden dreieckigen Fassadenfelder mit transparentem und opakem Glas in Weiß und Hellgrau belegt, sie zeichnen das Tragwerk nach und geben der Fassade ihre Zick-Zack-Optik. Weil so nur ein Minimum an Tageslicht in den Raum fällt, richtet sich der Blick nach innen – auf den Forschungs- und Experimentiergegenstand.
Die Themenwelten ermöglichen den Besuchern das Erleben und Begreifen des Wissensstoffs – da fehlt natürlich noch die praktische Anwendung. Dafür haben Sauerbruch Hutton in das Atrium vier „Studios“ eingehängt: übereinandergestapelte Werkstatt-Glaskästen, halbgeschossig versetzt zu den Themenwelt-Etagen und ebenfalls zueinander verdreht. Als architektonische Konstruktion fordert dieses kristalline Kerngehäuse den Entdeckersinn des Betrachters auf dem Weg durchs Haus immer wieder aufs Neue heraus. Tatsächlich habe sie diese Struktur und etwa das Einbringen von mehr als 18 Quadratmeter großen Glasscheiben in den vertikalen Luftraum an „die Grenzen des Machbaren“ gebracht, so Sauerbruch. „Bringen wir die Wirklichkeit zum Funktionieren“ lautet das Motto der Berliner Planer – in der neuen Experimenta, deren Architektur selbst ein gelungenes Experiment ist, haben sie es vorbildlich eingelöst.
Die Reihe der Innovationen setzt sich fort: Im Untergeschoss finden sich Räume für Sonderausstellungen, der Verbindungsgang zum umgebauten Altbau, der jetzt Labors für Schulklassen und Gruppen enthält – und der Science Dome. Der Clou dieser „weltweit einzigartigen“ Kombination aus Planetarium und Theater: Das Auditorium ist drehbar. In einer Demoshow wird Heilbronn als Stadt gepriesen, in der Innovation seit jeher zu Hause sei. Wohlfeiles Werbemarketing? Um eine Entdeckung kommt man nach dem Besuch der neuen Experimenta nicht herum: Wer in Baden-Württemberg hervorragende Wissensarchitektur, bald auch zukunftsweisenden Städtebau auf der Bundesgartenschau und überhaupt eine Stadt erleben will, die mutig vorangeht, der muss Stuttgart den Rücken kehren – und nach Heilbronn fahren.