Weltflucht und Kakaoseligkeit: Wie Trends auf dem Salone del Mobile die aktuelle Stimmung reflektieren und welche Sessel und Tische Stuttgarter Designstudios auf der weltgrößten Möbelmesse in Mailand präsentieren.
Die Modedesignerin Jil Sander hat für Thonet eine Ikone des Bauhaus neu interpretiert: den „S64“ von Marcel Breuer.
Von Nicole Golombek und Tomo Pavlovic
Ins Lichte, Weite! Hell und behaglich soll es ausschauen in der zeitgemäßen Behausung, mit hohen Decken in der Wohnung und im Haus, dazu Möbel gern geradlinig, grazil im zeitgemäß aufgefrischten 50er Jahre Look. Sessel, Stühle , Schränke, Accessoires in Beige, Weiß, sanftem Grau, vielleicht etwas in Salbei-Pastell oder im kräftigen Neongelb als Statementfarbe.
Jedenfalls nichts in dunklem Braun, Eiche rustikal und so. Jahre, Jahrzehnte lang haben die Kreativen der Gestaltungsbüros von Innenarchitektur bis Interior Design doch genau dagegen angekämpft: abgehängte Holzdecken und muffiges Braun- in-Braun in den Wohnstuben.
Viel Braunes auf der Mailänder Möbelmesse
Lange Zeit sah es aber so aus bei vielen daheim: Gelsenkirchener Barock mit wuchtigen Möbeln im Burgschenkenstil und braune Cordsofalandschaften, in denen dereinst samstagabends im Wohnzimmer die Kinder nach dem Baden im Schlafanzug neben der Oma und den Eltern im Polstermöbel lümmelten und irgendwann während der „Wetten, dass..?“ oder „Verstehen Sie Spaß?“-Fernsehsendungen einschliefen.
Kaum eine Neubauwohnung auch in den späten 70ern und 80er Jahren, in der die Bewohner nicht in einer Einbauküche im Stil „ländlich rustikal“ Käseplatten und Mettigel für abendliche Canasta-Runden vorbereiteten, bevor sie wieder zu Schokopudding mit Sahne aus dem Supermarkt zurückgriffen.
Doch jetzt ist es wieder da: dunkles Holz, Sessel, Sofas, wie in die Erde hineingerammt. Mittelbraun, dunkelbraun, schwarzbraun, dazu die 80er-Jahre-Schreckensfarbe, weil sie zu fast nichts passen will: Bordeaux.
Das sehr lange andauernde Mid Century Revival, also Möbel aus den 50ern, wird abgelöst durch eine Einrichtungskultur späterer Dekaden, so etwa die 70er Jahre mit ihrem orange-braun und runden Formen vor allem. Üppige Sofas und Sessel mit Bodenhaftung im Seventies-Look hatten sich schon in jüngerer Zeit zwischen die auf zierlichen Füßen stehenden Sitzgelegenheiten gepflanzt. Doch nun ist das Thema omnipräsent.
Küchen im Trend aus Baden-Württemberg
Auf den Homepages von exklusiven Wandfarbenherstellern wie Little Greene oder Farrow & Ball wird darauf hingewiesen, dass das ewige Grau von Braun zumindest gute Gesellschaft bekommt. Und auf den Ausstellungsflächen der Möbelmessen wie jetzt in Mailand ist zu sehen: Alles kommt wieder, aber anders.
Schlichter sind die Möbel, weniger wuchtig als in den 70ern und 80ern, und selbstverständlich kommen keine Hölzer mehr zum Einsatz, die unter Schutz stehen. Dafür viel, viel dunkler Wald. Eiche dunkel gebeizt, Walnuss. Der Küchenhersteller Leicht mit Sitz in Waldstetten in Baden-Württemberg stellt eine schnörkellose Küche in mittelfarbigem Nussbaum vor, der italienische Möbelfabrikant Pedrali hat ein Sideboard in dunklem Holzton im Programm.
Damit man nicht so ganz im Dunkel versinkt, blitzt es öfter mal silbern – Chrom kommt zurück, in der Küche und im Bad müssen die Armaturen jetzt nicht mehr Schwarz oder in Messing ausgeführt sein, Vincent Van Duysen etwa hat für Fantini eine sehr coole Chromarmatur entworfen. Auch beim Dauertrend Revival – also der Wiederauflage von Klassikern – ist das so: Der dänische Hersteller Hay bringt den „X-Line“-Stuhl von Niels Jørgen Haugesen aus den 70er Jahren wieder auf den Markt – die Stahlkonstruktion ist aus dünnem Stahldraht und wird als Vorzeigestück in Chrom gezeigt. Das Ganze mit brauner (!) Sitzpolsterung.
Neben Braun und ganz wenig Himmelblau und Eisblau oder Waldgrün viel gesehen wird auch noch „deep red“, tiefrot, wie die 80er-Jahre-Schreckensfarbe „Barolorot“ oder „Bordeaux“ jetzt oft genannt wird. Sei es bei Wandfarben für die Showrooms für die Möbelneuheiten, sei es bei Accessoires wie der „Kink“-Vase von Muuto oder dem „Kwado“-Sessel, den Sebastian Herkner für Cappellini entworfen hat.
Jil Sander entwirft für Thonet
Nicht nur der fleißige und Trends setzende Gestalter aus Baden-Württemberg ist Messedarling mit allerhand Neuheiten für bedeutende Hersteller, sondern die große deutsche Modedesignerin Jil Sander. Sie hat für Thonet den ikonischen Freischwinger S 64 aus den 1920ern von dem Architekten und Designer Marcel Breuer überarbeitet. „Die Ästhetik des Bauhauses in der Architektur, in den Objekten, in der Grafik war in meiner Jugend sehr präsent und hat mich tief beeinflusst“, sagt Jil Sander über ihre Motivation, sich dem Klassiker zu widmen: „Einen Klassiker erkennt man daran, dass man seiner nicht leicht überdrüssig wird und ihn immer noch jemand erben möchte.“
So spricht die Designerin über ihre Inspiration: „Ich wollte den S 64 im Sinne Breuers ins Jetzt holen. Seine Konstruktion und Grundstruktur sind überzeugend und haben eine zeitgemäße Würdigung verdient.“ Einer der Lederbezüge: Burgunderfarbenes „Graphite Ruby Red“. Zur glänzenden Freischwinger-Form apart passend sind die Lederbezüge mit ihrer leicht matten Struktur.
Versinken im Polstersessel von Jehs+Laub aus Stuttgart
Matt, dunkel, erdverbunden, das sind überhaupt die Stichworte der Stunde. Woran das liegt? Das hat sicher mit einem gewissen Weltüberdruss zu tun, angesichts all der Krisen ist es nicht mehr getan mit dänisch hyggeligem Gemütlichmachen mit hellem Holz und sanften Farben.
Über dieses freundliche Hellgraubraun – „Greige“ – übrigens mokiert sich aktuell in einem Wohnmagazin der „Zeit“ der Autor Florian Illies und zitiert dazu den Dichter Botho Strauß: „Wohnen, dämmern, lügen“ – so habe „ebendieser Botho Strauß den deutschen Entfremdungszustand schon vor Jahren treffend beschrieben“.
Nun hat sich diese skandinavisch sanfte Rückzugsmelancholie zu einer handfesten Krisenstimmung ausgewachsen und in ein fast schon höhlenhaften Einigelnwollen gesteigert. Abwinken, Rückzug von allem. „ Laß, o Welt, o lass mich sein“, wie es in Eduard Mörikes „Verborgenheit“ heißt. Daher auch die vielen üppig gepolsterten Loungesessel wie vom Stuttgarter Designstudio Jehs+Laub für Cor. Holz zudem, das noch möglichst nach Baum aussieht, vermittelt eine gewisse Schwere, Seriosität, das Material steht für Dauer, für Stabilität.
Und für Regression, kindliches Lassmichinruh’. Der Farbhersteller Pantone, der für 2025 den Braunton „Mocha Mousse“ zur Farbe des Jahres gekürt hat, formuliert es positiver: die Wahl fiel auf einen „warmen, satten Braunton mit einer besonderen Intensität, der an den Genuss von Kakao, Schokolade und Kaffee erinnert und unser Bedürfnis nach Behaglichkeit anspricht.“
Planetenliebe und Klimaschutz
Und dann ist Braun auch – ja, ein etwas demonstratives – Bekenntnis zum Anfassen, zum Analogen. Man denke an die dauerausgebuchten Töpferkurse in Großstädten, wo junge und ältere Leute stundenlang geduldig gemeinsam herumsitzen und aus Lehm Kerzenständer, Vasen und anderes Kunsthandwerk herstellen. Von der braunen, zuweilen dunkel rötlichen (Bordeaux, schon wieder!) Erdfarbe ist es nicht weit zur Erdverbundenheit, Planetenliebe, Klimaschutz.
Also: zum politischen Statement, den Planeten und die Menschen, die sich auf ihm bewegen (vom globalen Süden und Osten nach Westen) zu achten und zu schützen. „Die Erde gehört uns nicht“ – so lautet eine Installation in Mailand, bei der ein Innenhof-Palazzo komplett mit Erde belegt ist. Möbel? Die sollen auf der weltgrößten Messe hier und da aber vermutlich schon noch verkauft werden.
Bilder – auch von Stuttgarter Newcomern – in Mailand in der Bildergalerie.
Braun vor Braun mit Tierstillleben: Arbeitstisch vor Ziegelwand von Man of Parts.
Beige mit Braungrau. Die Stuttgarter Designer Jehs+Laub Markus Jehs und Jürgen Laub haben für den Hersteller COR gepolsterte Sitzmöbel namens „Kagu“ entworfen.
Dunkles Holz wie in den 70ern, aber die Form ist deutlich schlichter: Küche „Kyoto“-Kollektion von LEICHT.
Stillleben mit Midgard-Leuchte „Loja“ von Sebastian Herkner, 1981 in Bad Mergentheim in Baden-Württemberg geboren.
Dunkelbraun, Mittelbraun, Goldgelb: Sesselinszenierung „Leya“ von Freifrau vor Holzwand.
Auf dem Boden aufsetzend und natürlich im Braunton: Sofa „Sandy“ für Man of Parts von Gestalter Sebastian Herkner.
Tisch „Conca“ von Leolux und . . .
. . . vom selben Hersteller ein Teppich in Brauntönen.
Die deutsche Designerin Jil Sander hat den Möbelklassiker S64 von Marcel Breuer für Thonet neu interpretiert. Für die Linie „NORDIC“ erhielt der Freischwinger ein Gestell mit mattem Nickelsilver-Finish sowie Holzelemente aus weiß pigmentierter Eiche und mit weißem beziehungsweise naturfarbenem Leder bezogene Sitz- und Rückenpolster.
Neuinterpretierter Klassiker S64 von Marcel Breuer für Thonet, unter dem Titel „SERIOUS“ veredelte Jil Sander in enger Zusammenarbeit mit dem Thonet-Designteam den Stahlrohrklassiker mit einem Gestell in glänzender Titan-Anmutung und mit Leder bezogenen Sitz- und Rückenpolstern in vier Farbtönen, darunter auch in Burgunderfarbe, hier „Ruby Red Gloss“ genannt.
Lounge Chair „Chisel“ von Hay: Gedrungene Formen – in „deep red“ – burgunderfarben.
Auch an der Wand jetzt gern gesehen – Bordeaux. Dazu passt die Bank „Workshop“ von Muuto.
Wieder aufgelegt von der Firma Hay – „X-Line“-Stuhl mit Chrom aus den 1970ern.
„Outline“-Sofa mit Spiegel vor Holzwand von Muuto.
Chrom-Armatur „Flora“ für Fantini von Vincent Van Duysen.
Leuchte von Muuto in Chromausführung.
Neben bekannten Designerinnen und Designern sind auch Newcomer auf der Möbelmesse in Mailand zu entdecken, darunter Studio Bovti – aus Stuttgart –, gegründet von Inna Strokous und Marius Schwald, mit den organisch geformten Tischen „Cartapesta“.