800 Italienfans machen Nacht zum Tag

Kaum hat England den letzten Elfmeter im EM-Endspiel in London verschossen, zieht es die Anhänger der Squadra Azzurra in die Backnanger Innenstadt. Am Kreisel beim Feuerwehrgerätehaus wird ausgelassen gefeiert und Corona für den Moment vergessen.

800 Italienfans machen Nacht zum Tag

Grün, Weiß und Rot dominierten in der Nacht auf Montag in ganz Backnang und speziell im Kreisel beim Feuerwehrgerätehaus. Fotos: T. Sellmaier

Von Steffen Grün

BACKNANG. Der Montag ist schon beinahe angebrochen, als das Finale der Fußball- Europameisterschaft im Wembley-Stadion in London auf seine dramatische Entscheidung zusteuert. In dem zu so vorgerückter Stunde nur noch spärlich besetzten Biergarten im Waldheim durchlebt eine Handvoll Englandfans – zum Teil sogar gewandet ins Trikot der Three Lions – ein Wechselbad der Gefühle. Zunächst der Jubel über die Führung, dann der Ärger über den italienischen Ausgleich und als Krönung noch das nervenaufreibende Elfmeterschießen. Eine Disziplin, mit der die Kicker von der Insel schon öfters ihre Probleme hatten, so auch dieses Mal. Mit den drei Fehlschüssen in Serie von Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka erlischt Englands Hoffnung, 55 Jahre nach der WM 1966 den zweiten großen Titel zu gewinnen, auf denkbar bittere Weise.

In der Arena fließen Tränen, so schlimm nimmt es die paar Anhänger im Waldheim dann doch nicht mit. Enttäuscht von dannen ziehen sie aber allemal. Die Freude ist nun aufseiten der vielen Italiener in Backnang und den Umlandgemeinden, die das Endspiel aber nicht im Plattenwald, sondern anderswo verfolgt haben. Etwa 800 von ihnen, so ergibt die Zählung der Polizei, machen sich umgehend auf den Weg in die Innenstadt. Vom Abpfiff in London bis zu den ersten weithin hörbaren Hupen in der Murr-Metropole dauert es nur wenige Sekunden. Rund 150 Fahrzeuge sind unterwegs, auch das haben die Ordnungshüter grob überschlagen. Ihr Ziel ist der Kreisverkehr beim Feuerwehrgerätehaus – vielleicht nicht komplett freiwillig, denn die Zufahrt zum Rondell bei der Bleichwiese, das bei früheren Turnieren oft der Treffpunkt der feiernden Fans war, wird von der Polizei weitgehend unterbunden.

Dahinter stecke aber keine grundsätzliche Leitlinie, erklärt Gisela Blumer. Vielmehr, so die Leiterin des Rechts- und Ordnungsamtes, sei es die situative Entscheidung des jeweiligen Einsatzleiters der Polizei, welche Route gesperrt wird und welche offen bleibt. Den meisten Anhängern der Squadra Azzurra ist es in den Stunden des Triumphes wohl herzlich egal, wo sie die Freude ausleben. Reifen quietschen, der Geruch von verbranntem Gummi und gezündeten Böllern liegt in der Luft. Die Nationalhymne wird angestimmt, aus einer Musikbox scheppert „Felicità“ von Al Bano und Romina Power. Und überall stehen kleinere und größere Gruppen, grün-weiß-rote Fahnen in stattlicher Zahl werden geschwenkt. Mittendrin ist Lorenzo, in Backnang geboren und aufgewachsen. „Wir können stolz sein, was die Jungs geleistet haben“, sagt der 23-Jährige über Kapitän Giorgio Chiellini und dessen Kollegen. Ein dickes Lob geht auch an Trainer Roberto Mancini, nach der verpassten WM 2018 „ist der Umbruch gelungen“. Nun also der zweite EM-Titel für Italien nach 1968 und für Lorenzo der zweite Triumph nach dem Gewinn der WM-Trophäe 2006 in Deutschland, den er miterlebt hat. Schon damals sei er als kleiner Bub mit der Familie nach dem Endspiel in der Innenstadt gewesen, nun die erneute Party.

Die Stimmung ist ausgelassen, die Bilanz der Polizei fällt tags darauf recht positiv aus. Sprecher Rudolf Biehlmaier vermeldet „keine großen Zwischenfälle“. Ein paar Bengalos wurden gezündet, aber insgesamt sei diese Nacht „weitgehend friedlich“ verlaufen. Die Besatzungen der fünf Streifenwagen blieben daher meist in der Beobachterrolle, die im Rückstau in Richtung Adenauerplatz steckenden unbeteiligten Autofahrer drehten in der Regel ohne offen kundgetanen Ärger wieder um.

So weit, so gut. Was im kollektiven Jubeltaumel aber etwas unterging, ist die in der Coronapandemie nach wie vor gültige Landesverordnung. Und die besagt eben, dass auch im Freien nach wie vor die Maskenpflicht gilt, „wenn ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zu anderen Personen nicht dauerhaft eingehalten werden kann“. Von der Polizei zu erwarten, dass sie diese Vorgaben in der konkreten Situation durchsetzt, wäre aber naiv und zu viel verlangt. Die Frage, wie das unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit klappen soll, kann wohl keiner beantworten. Dasselbe gilt für all die Orte, an denen auch im Rems-Murr-Kreis gefeiert wurde. Zum Beispiel in Schorndorf, wo etwa 80 Fahrzeuge und 200 Personen gezählt wurden oder erst recht in Fellbach, wo 2500 italienische Fans die Nacht zum Tag machten.