Ärzte protestieren gegen die Überbelastung

Gleich zwei Protestaktionen von Ärztinnen und Ärzten finden demnächst statt: Morgen demonstrieren niedergelassene Ärzte sowie Psychotherapeuten auf dem Stuttgarter Schlossplatz, am 27. Juni bleiben zahlreiche Kinderarztpraxen im Rems-Murr-Kreis geschlossen.

Ärzte protestieren gegen die Überbelastung

Der Protesttag der Kinderärzte am 27. Juni ist nicht der erste im Kreis: Zuletzt blieben im Dezember 2022 viele Praxen zu. Archivfoto: A. Becher

Von Melanie Maier

Rems-Murr. Sie arbeiten am Limit. Jens Steinat, Hausarzt in Oppenweiler und Vorsitzender der Ärzteschaft Backnang, kommt regelmäßig auf 70 Arbeitsstunden und mehr pro Woche, die Backnanger Kinderärztin Sabina Delic-Bikic behandelt täglich etwa 100 bis 110 kleine Patientinnen und Patienten. Zu viele, um sich auf jedes Kind gebührend einzulassen. Um auf die extreme Arbeitsbelastung sowie Probleme wie den Fachkräftemangel oder die immer größeren Hürden der Bürokratie und die ineffiziente Digitalisierung aufmerksam zu machen, werden mehr als 2300 Ärzte, Psychotherapeuten und ihre Praxisteams morgen auf dem Stuttgarter Schlossplatz protestieren. Knapp eine Woche später, am Dienstag, 27. Juni, ziehen die Kinderärztinnen und Kinderärzte nach. An dem Tag bleiben die meisten Praxen im Landkreis geschlossen. Die Gesundheitsversorgung der Kinder im Kreis sei mittlerweile massiv bedroht, begründen die Beteiligten den Protesttag.

Die Stimmung ist am Tiefpunkt

Die Aktion morgen geht auf die Initiative des fachübergreifenden Ärzteverbands Medi Baden-Württemberg sowie zehn weitere Ärzteverbände zurück (siehe Infotext). Sie richtet sich auch gegen aktuelle Entscheidungen der Bundespolitik. „Die Stimmung ist bei den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen an einem Tiefpunkt angelangt“, sagt Mitinitiator Michael Eckstein, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Medi Baden-Württemberg und Hausarzt aus Reilingen (Rhein-Neckar-Kreis). „Die jüngst abgeschaffte Neupatientenregelung hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Das merken leider auch die Patientinnen und Patienten, weil sie monatelang auf einen Termin beim Facharzt warten müssen.“ Die 2019 eingeführte Neupatientenregelung sah eine extrabudgetäre Vergütung von Leistungen für neue Patienten vor.

Der Oppenweiler Hausarzt Jens Steinat nimmt zwar nicht an der Protestaktion teil, da er seine Kollegin im Ort Eva Steininger vertritt, die an dem Tag im Urlaub ist. Doch er unterstützt die Initiative. Im Vordergrund stehen für ihn dabei die ineffiziente Digitalisierung, die eher eine Belastung sei, als dass sie zur Entlastung beitrage, sowie die aus seiner Sicht unnötige Überbürokratisierung, die den Ärztinnen und Ärzten auch noch die wenige verbleibende Freizeit raube. „Es ist alles komplizierter geworden und kostet mehr Zeit“, fasst er zusammen. Das Monetäre sei für ihn erst einmal zweitrangig, sagt Steinat. Denn auch die mehr als 30 Jahre alte Gebührenordnung, mit der Mediziner entlohnt werden, ist ein Kritikpunkt der Verbände. Zumal die Inflation und die gestiegenen Energiekosten auch vor den Arztpraxen nicht Halt machen.

Arbeitsbedingungen haben sich stetig verschlechtert

Beim Protesttag der Kinderärzte am 27. Juni geht es ebenfalls um die Arbeitsbedingungen, die sich ihnen zufolge stetig verschlechtert haben. Die Zeiten und der Arbeitsaufwand haben stark zugenommen, teilen die Initiatoren mit. Als Beispiele führen sie an, dass es das Vielfache an Impfungen und Untersuchungen sowie deutlich mehr und komplexere Krankheitsbilder gebe. Das Ergebnis: Die Praxen seien völlig überlastet. „Es ist fast unmöglich, unter diesen Umständen zu arbeiten“, sagt Sabina Delic-Bikic. Die Backnanger Kinderärztin wird ihre Türen am 27. Juni zu lassen. Derzeit ist ihre Praxis so überlastet, dass sie keine neuen Patienten mehr aufnehmen kann. „Wenn sich Schwangere drei Monate vor der Geburt ihres Babys bei uns melden, können wir ihnen keinen Termin anbieten, weil der Kalender bis November voll ist. Wir haben ein schlechtes Gewissen, weil die Babys ja auch Impfungen und Untersuchungen brauchen, aber wir können die Grenzen nicht noch weiter überschreiten.“

Was Delic-Bikic und ihre Kollegen sich kurzfristig wünschen ist die Aufhebung von unnötiger Bürokratie sowie die Änderung von Vorschriften, zum Beispiel was die Einstellungsregeln für Ärzte betrifft. Delic-Bikic hofft etwa, dass die Facharztausbildung von Geflüchteten schneller anerkannt wird. „Das wäre ein erster Schritt, um die Lücke schneller zu füllen – ausreichend Sprachkenntnisse natürlich vorausgesetzt.“ In ihrer Praxis absolvierte kürzlich eine Kinderchirurgin aus der Ukraine ein Praktikum, „ein ganz wunderbarer Mensch“, sagt sie. Doch trotz Arbeitswillen, Ausbildung und mehrjähriger Berufserfahrung müsse sich die Geflüchtete nun erst einmal mühsam von Praktikum zu Praktikum hangeln.

Mehr Studienplätze sind gewünscht

Um die Situation mittel- und langfristig zu erleichtern, wünschen sich die Mediziner zudem mehr Studienplätze, die Schaffung von Familienzentren und mehr psychosoziale Beratung durch Staat und Kommunen. Sabina Delic-Bikic würde obligatorische Kurse an Schulen sehr begrüßen, die die psychische Gesundheit der Kinder stärken.

Die Sulzbacher Kinderärztin Marianna Tóthi wird ihre Praxis an dem Protesttag geöffnet lassen und sich um die Notfälle kümmern. Das sei ihr Beitrag zu der Aktion, sagt sie. „Als Ungarin möchte ich mich aus politischen Themen heraushalten. Aber ich bin solidarisch in allen Punkten.“

Steinat: „Es müssen erst einmal großflächig Dinge kollabieren, bevor es zu einem dringend benötigten Wandel kommt.

Doch längst nicht alle Ärztinnen und Ärzte sind von den Protestaktionen überzeugt. Die Backnanger Allgemeinmedizinerin Ute Ulfert und ihr Mann Günther Ulfert, mit dem sie ihre Praxis führt, werden zum Beispiel nicht nach Stuttgart fahren. „Unsere Patientinnen und Patienten suchen jetzt schon händeringend nach Terminen“, erklärt Ulfert. Die Praxis einen Tag oder auch nur einen Nachmittag lang zu schließen sei momentan „nicht so gut“, sagt sie. Zudem werde der Notstand ihrer Meinung nach oft genug in den Medien kommuniziert. „Die Lage ist so deutlich, dass es keines Protesttags bedarf“, sagt Ute Ulfert. Und: „Ich weiß nicht, welchen Nachhall das Ganze haben wird.“ Daher spare sie sich ihre Kräfte lieber für die Sprechstunde auf.

Dass die Aktion bald Folgen zeigen wird, das bezweifelt auch Jens Steinat. „Das wird überhaupt nichts bewirken, so leid es mir tut“, sagt er. „Es ist traurig, aber ich glaube, es müssen erst einmal großflächig Dinge kollabieren, bevor es zu einem dringend benötigten Wandel kommt.“ Nichtsdestotrotz hält der Hausarzt es für sehr wichtig, immer wieder zu kommunizieren, was schiefläuft und in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür zu schaffen.

Ärzte protestieren gegen die Überbelastung

Insgesamt elf Berufsverbände beteiligen sich an der Protestaktion der Ärztinnen und Ärzte in Stuttgart

Ärzte und Psychotherapeuten Auf dem Stuttgarter Schlossplatz sprechen morgen von 13 bis 15 Uhr Ärzte, Psychotherapeuten und Medizinische Fachangestellte auf einer Bühne über die aktuelle Gesundheitspolitik und die Probleme der zukünftigen Versorgung . Außerdem präsentiert ein Comedian die Patientensicht. Für eine Notfallvertretung ist an dem Tag gesorgt. Neben dem Ärzteverband Medi Baden-Württemberg beteiligen sich der Hausärzteverband Baden-Württemberg, der Spitzenverband der Fachärztlichen Berufsverbände in Baden-Württemberg, der Spitzenverband Fachärzte Deutschlands, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, der Berufsverband der Frauenärzte, der Verband Hessenmed, der Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie, der Berufsverband Deutscher Internistinnen und Internisten, der Verband Medi Geno Deutschland und die Dentimed GmbH an der Aktion.

Kinderärzte Die Kinderärztinnen und Kinderärzte im Kreis legen am Dienstag, 27. Juni, die Stethoskope vorübergehend nieder. An dem Tag kümmern sich drei Praxen von 8 bis 18 Uhr um die Notversorgung der kleinen Patienten. Sie bitten darum, nur in dringenden Fällen zu kommen. Ein Termin muss, wie beim Notdienst üblich, nicht ausgemacht werden, Eltern können mit ihren Kindern einfach hingehen. Folgende Praxen sind ganztägig geöffnet:

Kinderarztpraxis Marianna Tóthi, Backnanger Straße 32, Sulzbach an der Murr

Kinderarztpraxis Michael Hoffmann, Bahnhofstraße 35, Winnenden

Kinderarztpraxis Michael Fischer, Ka Yong Rapp und Birthe Kaufhold, Remstalstraße 8, Fellbach-Schmiden

Wer die Kinderärzte unterstützen möchte, kann einen Flyer unterzeichnen. Ihn findet man unter https://t1p.de/d7o2f.