„Andere Krankheiten nicht mehr im Fokus“

Das Interview: Zum heutigen Weltkrebstag spricht Markus Schaich, Chefarzt für Onkologie im Rems-Murr-Klinikum Winnenden, über das große Risiko für Krebspatienten, wenn sie an Corona erkranken, sowie über Veränderungen durch die Pandemie.

„Andere Krankheiten nicht mehr im Fokus“

Markus Schaich auf seiner Station, noch vor Corona. Mittlerweile hat sich einiges geändert. Archivfoto: Rems-Murr-Kliniken

Von Kristin Doberer

Herr Schaich, wann war die Pandemie bei Ihnen auf der Onkologischen Station das erste Mal präsent?

Ich erinnere mich noch ganz genau. Da hat der VfB Stuttgart im März noch vor 56000 Zuschauern gespielt. Praktisch zeitgleich haben wir unsere Station komplett abgeriegelt. Wir haben die Tür geschlossen, zu einer anderen Station ist sogar eine Wand eingezogen worden. Wir haben die Station hermetisch abgeriegelt und haben die Hygienemaßnahmen, wie sie jetzt überall üblich sind, sofort komplett umgesetzt. Dadurch haben wir es vermieden, Infektionen in der Abteilung zu haben. Wir konnten die Patienten schützen, indem wir sehr, sehr frühzeitig reagiert haben. Die Abschottung unserer Station war eine der allerersten Maßnahme der Rems-Murr-Kliniken in Bezug auf Corona. Was ja auch richtig ist, weil bei uns die gefährdetsten Patienten im gesamten Klinikum sind.

Warum haben gerade Krebspatienten das Risiko für einen schweren Coronaverlauf?

Unsere Patienten sind generell sehr anfällig für Infekte, weil das Immunsystem am Boden liegt und wir auch durch unsere Therapien das Immunsystem schwer weiter schädigen. Es gibt bereits eine deutschlandweite Erhebung bei Krebspatienten mit Corona, die zeigt, dass diese Patienten ein sehr hohes Risiko haben und dass teilweise die Sterblichkeit bei bis zu 50 Prozent liegt, wenn sie sich anstecken. Vor allem Patienten mit den sogenannten hämatologischen Krebserkrankungen, also mit Blutkrebs oder Lymphdrüsenkrebs, haben per se nur ein eingeschränkt funktionierendes Immunsystem. Dazu gehören auch Patienten mit soliden Tumoren, also Darmkrebs oder Brustkrebs, die eine aktive Erkrankung haben und therapiert werden, weil durch Therapien das Immunsystem leidet.

Viele Menschen vermeiden Arzt- und Krankenhausbesuche, aus Angst sich anzustecken. Was bedeutet das für die Behandlung der Patienten und die Entdeckung neuer Krebserkrankungen?

Das ist tatsächlich ein großes Problem gewesen, zumindest in der ersten Pandemiephase. Viele Patienten haben sich nicht mehr getraut, ins Krankenhaus zu gehen. Das ist bei jemand, der zum Beispiel eine neue Hüfte braucht, kein Problem, weil das kann man auch in drei oder vier Monaten noch machen. Aber wenn bei jemand der Verdacht auf eine aktive Krebserkrankung da ist, kann es sein Todesurteil sein, wenn er nur zwei oder drei Wochen später ins Krankenhaus geht. Es gibt Daten aus Italien, wo nachgewiesen wurde, dass die Sterblichkeit der Krebspatienten um 15 Prozent zugenommen hat. Nur weil die Patienten nicht mehr ins Krankenhaus gegangen sind und weil Untersuchungen verschoben werden mussten. Deswegen ist für uns ganz klar, dass die Behandlung von Krebspatienten normal weiterlaufen muss. Auch die Nachsorge bei Patienten nach der eigentlichen Krebstherapie müssen wir zeitgerecht durchführen. Wenn man das nicht macht, trägt es dazu bei, dass die Sterblichkeit höher wird.

Das heißt, auf Ihrer Station wurden keine Termine verschoben?

Wir verschieben nichts von uns aus, da unsere Behandlungen zu den dringlichen Fällen gehören. Es war aber in der ersten Phase der Pandemie der Fall, dass rund 25 Prozent der Patienten von sich aus Termine abgesagt haben. Ihnen war das zu gefährlich, sie wollten nicht ins Krankenhaus kommen. Das hat sich mittlerweile gegeben, auch durch die Information der Patienten. Wir führen die Behandlung nach den internationalen und nationalen onkologischen Leitlinien weiter durch und legen unser Augenmerk auf die Hygiene und auf die Sicherheitsmaßnahmen. Die Patienten werden so gut wie möglich geschützt, die Sicherheitsvorschriften haben sich im Laufe der Pandemie immer weiter verschärft. Und mittlerweile ist das gesamte Krankenhaus ein Hochsicherheitstrakt.

Heißt das, Sie arbeiten wieder ganz normal, mit voller Patientenauslastung?

Nein, wir brauchen deutlich mehr Einzelzimmer. Wir können in den Räumlichkeiten, die wir haben, im Moment nur etwa 70 Prozent der Patienten behandeln, die wir sonst behandeln können. Und was wir leider nicht anbieten können, sind unsere ambulanten Angebote in der Musik- und Kunsttherapie. Für die stationären Patienten läuft das aber relativ normal weiter. Wir haben die Seelsorge, Physiotherapie, Musik- und Kunsttherapie, die jetzt auch in der Pandemie einen anderen Stellenwert kriegt, weil man sich von den ganzen Problemen ablenken kann.

Wie hat sich denn die Arbeit auf Ihrer Station seit der Pandemie sonst noch verändert?

Prinzipiell stand für uns in der Hämatologie und Onkologie schon immer ein sehr strenges Hygieneregime im Vordergrund. Das ist schon vor der Pandemie der Fall gewesen. Bei Patienten mit akuter Leukämie gibt es immer schon eine sogenannte Umkehrisolation. Das heißt, Ärzte und Pflegepersonal gehen nur mit Mundschutz, Handschuhen und Kittel zum Patienten – völlig unabhängig von der Pandemie. Insofern hat sich diesbezüglich für uns jetzt gar nicht so wahnsinnig viel verändert. Was sich geändert hat, sind natürlich das Testen und die Besucherregelungen. Mitarbeiter werden aktuell zweimal wöchentlich getestet, Patienten kommen nur auf Station, wenn sie einen negativen Test haben, und werden dort auch regelmäßig getestet. Was für die Patienten eine weitere Belastung darstellt. Denn dahinter steckt immer die Angst: Könnte ich jetzt doch positiv sein? Was passiert dann mit mir? Und was natürlich für unsere Patienten auch eine Belastung darstellt, ist, dass wir mit den Besuchen sehr streng sein müssen. Im Prinzip dürfen gar keine Besucher rein. Nur bei Patienten, die sehr schwer krank sind und mehrere Wochen bei uns auf Station liegen, gibt es Ausnahmeregelungen. Aber auch die müssen jedes Mal, wenn sie kommen, wieder getestet werden. Diese Tests müssen wir im Klinikum aus dem vorhandenen Personal stemmen, sodass die Belastung der Mitarbeiter deutlich höher ist.

Können Krebspatienten denn problemlos geimpft werden?

Man kann nahezu alle impfen. Es gibt Vorbehalte bei Patienten, die einen sogenannten B-Zell-Defekt haben. Da ist die Impfung zwar nicht gefährlich, aber man weiß nicht, ob diese Patienten Impfschutz aufbauen.

Sollten Krebspatienten mit dem Risiko beim Impfen dann nicht früher drankommen?

Bislang ist es so, dass sie in der Gruppe drei sind, mit allen anderen chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder chronischen Lungenerkrankungen. Die Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie hat aber schon eine ganze Weile darauf hingewiesen, dass man diese Patienten eigentlich früher impfen müsste. Und im Moment wird die Verordnung wohl auch so angepasst, dass Patienten mit chronischen Erkrankungen in die Prio zwei rutschen sollen. Das hängt auch mit dem Astrazeneca-Impfstoff zusammen. Da der für ältere Patienten nicht zur Verfügung steht, könnte er auch für diese Patientengruppen benutzt werden.

Stört es Sie, dass die Aufmerksamkeit gerade sehr auf Covid-Patienten liegt und dass andere Krankheiten aus dem Fokus sind?

Klar, da geht’s mir wahrscheinlich wie jedem anderen, dass man den Begriff Corona gar nicht mehr hören kann. Natürlich gab es so etwas zuletzt vor 100 Jahren und die Pandemie greift in alle gesellschaftlichen Bereiche ein. Von daher ist es völlig verständlich, dass es auch in aller Munde ist. Aber der Punkt ist, dass vieles andere nicht mehr im Fokus ist. Zumindest am Anfang der Pandemie sind im Rems-Murr-Klinikum mehr Menschen an ihrer unheilbaren Krebserkrankung verstorben als an Corona. Und das ist tatsächlich in den Hintergrund gerückt, dass es nach wie vor Erkrankungen gibt, die auch sehr schwerwiegend sind und an denen man versterben kann, vor allem wenn man sie nicht richtig behandelt. Und dazu gehören eben Krebserkrankungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle und andere schwerwiegende Erkrankungen. Wenn wir mal die Pandemie aufarbeiten, werden wir wahrscheinlich merken, dass die Sterblichkeit an Herzinfarkt, an Schlaganfällen, an Krebserkrankungen in der Pandemie zugenommen hat.

Was raten Sie Krebspatienten, die nicht auf der Station, sondern zu Hause sind?

Wir behandeln auch weiter ambulant. Aber es kommt praktisch kein Patient ungetestet zu irgendeiner ambulanten Vorstellung oder Therapie. Die kriegen zum Teil täglich das Stäbchen in die Nase geschoben. In der Zwischenzeit sagen wir allen Patienten, dass sie für die Zeit der aktiven Tumortherapie in eine Art Selbstquarantäne gehen müssen. So eine Therapie kann auch ein halbes Jahr bis ein Jahr dauern. Da sind Psychologen in der Pandemie natürlich auch extrem wichtig. Weil die Patienten nicht nur schwer krank sind, sondern auch ihre ganzen Sorgen mitbringen und sehr mit Angst beladen sind.

Die Krebsberatungsstelle Rems-Murr ist für Menschen mit Krebserkrankung und deren Angehörige ein wichtiger Anlaufpunkt. Dieses Angebot kann jetzt auch telefonisch oder per Video wahrgenommen werden. Betroffene und Berater können sich jetzt in einem persönlichen Gespräch in den neu geschaffenen Räumen der Beratungsstelle in einer sicheren Atmosphäre begegnen. Oder sie können einfach von zu Hause aus die Telefon- und Videosprechstunde der Krebsberatungsstelle in Anspruch nehmen. Termine für ein Erstgespräch können vereinbart werden über die Telefonnummer 07195/ 591-52470 oder die E-Mail-Adresse krebsberatungsstelle@rems-murr-kliniken.de.

Markus Schaich

Seit 2013 ist Markus Schaich Chefarzt der Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin im Rems-Murr-Klinikum Winnenden. Seit 2020 ist er außerdem Leiter des Leukämie- und Lymphomzentrums, das erst kürzlich von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifiziert wurde . Es ist bundesweit eines der ersten zertifizierten Zentren seiner Art.

Geboren ist Schaich in Esslingen am Neckar, das Medizinstudium hat er an der Universität Tübingen absolviert, die Habilitation hat er an der Technischen Universität Dresden auf dem Gebiet der inneren Medizin gemacht.