Bürokratie trotz Pandemie setzt Ärzten zu

Jens Steinat fordert als Vorsitzender der Ärzteschaft Backnang mehr Wertschätzung für seine Kollegen seitens der Politik und der Kassen. Doch diese wollen stattdessen ohne Rücksicht auf die enorme Arbeitsbelastung der Hausärzte mehrere elektronische Neuerungen durchpeitschen.

Bürokratie trotz Pandemie setzt Ärzten zu

Keinen Beifall, sondern Wertschätzung in der Form, dass alle unnötigen Aufgaben einfach aufs nächste Jahr verschoben werden – das wünscht sich Jens Steinat.Foto: M. Nothstein

Von Matthias Nothstein

Backnang/Oppenweiler. Allgemeinmediziner Jens Steinat aus Oppenweiler kritisiert die Politik und die Krankenkassen vehement, weil diese die Hausärzte trotz der aktuellen Pandemie mit immer neuen bürokratischen Anforderungen eindecken. Er fordert, dass alle Hausärzte „zum Dank für ihren übergroßen Arbeitseinsatz einfach ein paar Monate von der Regierung auf allen bürokratischen Ebenen in Ruhe gelassen werden“. Das hätte die Verantwortlichen keinen Euro gekostet und wäre ein Zeichen der Wertschätzung gewesen. „Wir wollen, dass alles, was nicht dringend nötig ist, auf nächstes Jahr verschoben wird.“

Steinat ist zwar erst seit wenigen Wochen Vorsitzender der Ärzteschaft Backnang, aber der Allgemeinmediziner aus Oppenweiler spricht schon immer Klartext. Als Pandemiebeauftragter der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg für den Rems-Murr-Kreis und Mitglied des erweiterten Krisenstabes des Landkreises ist er seit eineinhalb Jahren nicht nur medizinisch mit der Pandemie befasst, sondern er setzt sich auch in kreis- und landespolitischen Angelegenheiten intensiv mit dem Thema auseinander.

„Eigentlich haben wir mehr oder weniger Lambarene gespielt“

Dieser Tage klagte der Mediziner: „Ein Großteil der Ärzteschaft fühlt sich nicht mehr wertgeschätzt – und das ist in meinen Augen auch berechtigt.“ Der 44-Jährige erinnert an das Engagement aller Kollegen, die unter sehr hohem, persönlichem Einsatz vom ersten Tag an gegen die Pandemie gekämpft hätten. Und dabei habe keiner gewusst, was auf ihn zukommt. Steinat: „Wir haben das Thema Eigengefährdung ausgeblendet. Wir hatten keine Schutzmaßnahmen. Eigentlich haben wir mehr oder weniger Lambarene gespielt.“

Besonders ärgert es Steinat, dass oft nur „von stationärer Medizin die Rede war, relativ wenig von ambulanter Medizin, wir Hausärzte wurden von der Politik bis heute vergessen“. Wobei Steinat gleich klarstellt: „Da geht es nicht unbedingt um monetäre Aspekte, auch wenn der eine oder andere Kollege sagt, die Impfungen könnten besser bezahlt werden.“ Nein, Steinat verlangt vielmehr eine Wertschätzung in anderer Form: „Wir haben gehofft, dass wir im Sommer eine gewisse Entlastung bekommen. Nicht von der Pandemie, das lässt sich ja nicht steuern, sondern eine Entlastung auf bürokratischer Ebene.“ Konkret kritisiert er Gesundheitsminister Jens Spahn, der die jahrelang vernachlässigte Digitalisierung ausgerechnet jetzt ohne Berücksichtigung der Pandemie durchpeitschen möchte. Drei Projekte nennt Steinat exemplarisch: die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), die elektronische Krankenakte und das elektronische Rezept.

Die eAU etwa sollte zum 1. Oktober 2021 ohne Übergangsfrist umgesetzt werden. Die Ärzte seien seit Wochen und Monaten dabei, die dafür nötigen Komponenten zu bestellen. Doch Steinat sagt: „Verschiedene Fachleute inklusive der IT-Experten der Kassenärztlichen Vereinigung haben das Gesundheitsministerium immer wieder gewarnt, dass diese Umstellung nicht funktioniert. Nichts ist erprobt, die Komponenten sind nicht lieferbar, die Softwarefirmen haben nicht genügend Personal, das alles in den Praxen zu installieren.“ Laut Gesetzgebung hätten alle Praxen, die nicht alles für die Umstellung Notwendige installiert haben, ab dem 1. Oktober nicht mehr arbeiten dürfen. Steinat wird konkreter: „Die Hälfte aller Arztpraxen in Deutschland hätte zum 1. Oktober schließen müssen, weil sie ihre Vertragsarztpflichten verletzen, wenn sie die Arbeitsunfähigkeitsformulare nicht mehr verschicken können.“ Nach wochenlangen zähen Verhandlungen mit den Spitzenverbänden der Kassen und der Politik zeigten diese Ende der vergangenen Woche ein Einsehen und räumten zumindest eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember ein. So konnte der „ambulante Shutdown“ zum Herbst gerade noch verhindert werden.

Der Aufschub macht die Sache zwar etwas leichter, aber zufrieden ist Steinat noch lange nicht: „Wir bekommen in den jüngsten Monaten ständig Forderungen vor den Latz geknallt, ohne dass wir einbezogen werden.“ Die Ärzte würden sich gerne auf die restlichen Impfungen konzentrieren. Auf die, die noch anstehen, sowie auf die dritten Impfungen und die vierte Welle, die laut Steinat mit Sicherheit kommen wird.

Wie unrealistisch viele Pläne sind, zeigt die Tatsache, dass die Erprobungsphase für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum Beispiel erst nächste Woche in ausgewählten Praxen beginnt. Steinat schüttelt ungläubig den Kopf und sagt: „Das muss man sich einmal vorstellen. Und zum 1. Oktober wollte man es zwingend umsetzen.“

Ähnliches gilt für die elektronische Krankenakte, die bis zum 1. Juli diesen Jahres umgesetzt sein sollte. Andernfalls sollten die Ärzte finanziell sanktioniert werden. Steinat hält die Digitalisierung zwar grundsätzlich für sinnvoll. Mehr noch, er erklärt: „Die elektronische Krankenakte wird in Zukunft für eine Entlastung sowohl für die Ärzte als auch für die Patienten sorgen.“ Aber der Zeitpunkt der Einführung ist seiner Ansicht nach aber äußerst unangebracht, da die Einführung mit einem enormen Arbeitsaufwand und auch mit Kosten verbunden ist. „Wir brauchen Berechtigungskarten mit fünf Codeworten, die wir nicht selber aktivieren können, dafür benötigen wir eine Firma, das ist alles hochkomplex, auch aus Datenschutzgründen. Selbst die Software-Techniker und IT-Experten können mir nicht erklären, wie das grundsätzlich abläuft. Ich habe seit kurzen alle Komponenten in der Praxis, aber ich und die meisten meiner Kollegen wissen nicht, wie das konkret anzuwenden ist.“

Dass die Verantwortlichen die „elektronischen Neuerungen in solch einer Zeit politisch durchpressen, halte ich und sehr viele meiner Kollegen für einen Affront gegenüber der Ärzteschaft. Und zwar sowohl vom Gesundheitsministerium als auch von Sozialministerium. Sie haben damit eine Chance verpasst, entweder wissentlich oder aus fehlender Überlegung, der Ärzteschaft eine Wertschätzung entgegen zu bringen.“

Das elektronische Rezept, das zum 1. Januar kommen soll, ist „in meinen Augen ebenfalls ein Affront“, fährt Steinat fort, da viele Fragen ungeklärt sind und die Umsetzung zumindest anfangs ein enormer Mehraufwand und eine unzumutbare Mehrbelastung bedeuten würde. Und das ausgerechnet zum Jahreswechsel. Steinat rechnet dann mit einer weiteren Hochphase der Pandemie. Mit ein bisschen Weitsicht hätte die Politik ganz viel Frustration bei der überarbeiteten Ärzteschaft und bei den medizinischen Fachangestellten verhindern können. „Ich habe die Sorge, dass ganz viele Kollegen und Arzthelferinnen durch den Dauereinsatz und die stetig wechselnden Anforderungen erschöpft sind. Da helfen auch drei Wochen Urlaub nicht wirklich viel. Man kommt gar nicht mehr zur Ruhe. Kaum hat man eine Aufgabe halbwegs im Griff werden drei andere Baustellen aufgemacht, die aber mit der Pandemiebewältigung gar nichts zu tun haben.“

Im Winter könnten die Hausärzte der limitierende Faktor sein

Was den Winter angeht ist der Mediziner skeptisch. Selbst wenn die schweren Fälle und die Todesfälle auf niedrigem Niveau bleiben würden, könnten die Infektionszahlen besonders in den Schulen und Kitas bei den Kindern unter zwölf Jahren, die noch nicht geimpft werden können, massiv steigen. Im Gegensatz zu früheren Wellen könnte dann unter Umständen nicht das stationäre klinische System der limitierende Faktor sein, sondern die Hausärzte. „Auch wenn die Politik kein Wort über die Belastung der Hausärzte verliert, so fangen wir doch einen Hauptteil der Pandemie ab. Wir werden in diesem Winter nicht unbedingt ein Problem im stationären Bereich haben. Aber bei steigenden Inzidenzen und leichteren Verläufen werden wir sehr viele Infektfälle haben, die wir ambulant versorgen müssen. Das wird das ambulante System im Herbst massiv an die Grenze bringen. Das ist der Politik nicht bewusst.“