Bundesteilhabegesetz: Verhandlungen gestalten sich mühsam

Das Bundesteilhabegesetz soll die persönliche Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen deutlich verbessern. Die Umsetzung im Rems-Murr-Kreis und auch andernorts gelingt allerdings nur spärlich.

Bundesteilhabegesetz: Verhandlungen gestalten sich mühsam

Welche Unterstützung braucht eine Person mit Behinderung, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben? Diese Frage steht im Zentrum des BTHG. Symbolfoto: Adobe Stock/romaset

Von Lorena Greppo

Rems-Murr. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dieses System wird vom Bundesteilhabegesetz (BTHG), welches in vier Reformstufen bis Ende 2023 umgesetzt wird, ordentlich durcheinandergewirbelt. Denn: Statt wie früher Pauschalbeträge für „Fürsorge“ zu erhalten, soll jeder einzelne Mensch mit Behinderung in seinen individuellen Bedürfnissen gefördert werden, unabhängig von der Wohnform. Leistungen für Existenzsicherung – etwa Wohnen oder Essen – werden getrennt von Leistungen für Teilhabe – etwa Mobilität, Assistenzbedarf oder Bildung. Daher werden aktuell Verhandlungen mit den Einrichtungsträgern geführt, um neue Verträge abzuschließen. Das gestaltet sich aber alles andere als einfach – nicht nur im Rems-Murr-Kreis.

Wie Rudolf Leonhardt, Leiter des Sozialamts im Rems-Murr-Kreis, darlegte, waren – Stand Mitte November – auf Landesebene erst 15 Angebote gemäß dem BTHG umgestellt worden. Ein Drittel davon, also fünf, kommt aus dem Rems-Murr-Kreis. Zwar ist man hierzulande somit relativ gesehen in der Vorreiterrolle, in absoluten Zahlen ist es dennoch ernüchternd. Denn im Kreis gibt es insgesamt 241 Angebote, die wiederum etwa 5.500 Plätze umfassen. Da die bisher abgeschlossenen Verträge mit kleineren Trägern erfolgt seien, so Leonhardt, komme man im Bezug auf die Plätze auf weniger als ein Prozent des Solls.

Für beide Seiten geht es um sehr viel

Doch warum dauert alles so lange? Momentan wird in den Städten und Landkreisen darum gerungen, festzulegen, wie die verschiedenen Leistungen erbracht und abgerechnet werden. Also konkret: Was steht den Menschen mit Behinderung an Unterstützungsleistungen zu und wie sind diese Leistungen finanziert? „Die Verhandlungen gestalten sich so mühsam und anstrengend, weil es für beide Seiten – also sowohl für die Kostenträger als auch für die Einrichtungen – um sehr viel geht“, erklärt der Pressesprecher der Diakonie Stetten, Steffen Wilhelm.

Aktuell werden nicht nur die Pflegesätze für das kommende Jahr verhandelt, sondern die Grundlagen, die für viele Jahre die Arbeit prägen werden. „Für beide Seiten steckt da viel Unsicherheit drin und Sorge, ob es gut weitergeht und ob der mögliche Mehraufwand leistbar ist – in Bezug auf die entstehenden Kosten, aber auch im Blick auf den zusätzlichen personellen Aufwand für die aufwendigere Verwaltung. Hinzu kommt, dass es nicht nur um eine Verhandlung für unser gesamtes Angebot geht, sondern dass sämtliche Angebote an allen unseren Standorten einzeln verhandelt werden müssen.“ Allein bei der Diakonie Stetten seien das rund 50 Einzelverhandlungen im Rems-Murr-Kreis; die Verhandlungen für die Standorte in anderen Landkreisen sind da noch gar nicht eingerechnet. „Für alle Angebote mussten wir als Grundlage für diese Verhandlungen neue Leistungsbeschreibungen und Konzeptionen erstellen. Das war sehr aufwendig und zeitintensiv“, erklärt er.

Leistungen sollen stärker am persönlichen Bedarf orientiert sein

Die Intention des BTHG, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe wesentlich individueller und noch stärker am persönlichen Bedarf orientiert sein sollen, begrüße die Diakonie sehr, so Wilhelm. Das Gesetzeswerk sei eine große Chance, die persönliche Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern und das Thema Inklusion in der Gesellschaft voranzubringen. „Sehr frustrierend ist für uns allerdings, dass sich der Prozess der Umsetzung in Baden-Württemberg so lange hinzieht und dass die Verbesserungen immer noch nicht bei den Menschen angekommen sind, obwohl das Gesetz schon Ende 2016 verabschiedet worden ist.“ Bislang sei vor allem ein großer bürokratischer Aufwand entstanden, der viel Zeit und Nerven kostet.

Andere Landkreise warten die Entscheidung im Rems-Murr-Kreis ab

Laut Rudolf Leonhardt besteht eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen und dem, was tatsächlich realisiert werden kann. Sechs Wochen vor Jahresende sei in gerade einmal einem Fünftel aller Fälle die Aufforderung ergangen, in die Verhandlungen einzusteigen. „Und das ist der einfachste Punkt“, machte der Kreissozialamtsleiter klar. Die Vorgabe des Landes, die Umsetzung des Gesetzes in den nächsten zwölf Monaten abzuschließen, sprich: alle Verträge bis dahin abgeschlossen zu haben, bewertet Leonhardt daher auch kritisch. „Da kann man geteilter Meinung sein, ob das realistisch ist“, formulierte er es. In anderen Kreisen sei man noch deutlich weiter hinterher als im Rems-Murr-Kreis. Das erklärte Leonhardt auch so: „Viele schauen auf uns.“ Das liegt daran, dass der Kreis sich mit einem größeren Träger nicht einig wurde und der Fall nun voraussichtlich vom Landessozialgericht entschieden werden muss. Je nachdem, wie es hier weitergehe, könnten sich auch andere Kreise danach ausrichten.

Steffen Wilhelm sieht nun die Zeit davonrennen. „Nach den jahrelangen Verzögerungen gibt es inzwischen auch einen großen Zeitdruck, die Verhandlungen rechtzeitig abzuschließen.“ Die Landesregierung habe signalisiert, dass die Übergangsvereinbarung nicht noch einmal verlängert wird (mehr dazu im Infotext). „Wir hoffen nun, dass wir im neuen Jahr zu guten Ergebnissen kommen, die für alle Seiten tragbar sind. Am wichtigsten ist, dass die betroffenen Menschen mit Behinderung nach langer Vorlaufzeit endlich von den neuen Regelungen profitieren und sich ihre Teilhabechancen spürbar verbessern, wie es das Gesetz vorsieht.“

Langer Umstellungsprozess

Gesetz Mit dem BTHG soll das deutsche Recht in Übereinstimmung mit den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) weiterentwickelt werden. Ziele sind die gleichberechtigte, volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben sowie eine selbstbestimmte Lebensführung. Hierfür wird die Eingliederungshilfe aus dem in Deutschland historisch gewachsenen Fürsorgesystem herausgeführt und zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt.

Hilfebedarf und Kosten Welche Form und welchen Umfang an individueller Unterstützung braucht eine Person, um möglichst selbstständig leben und am Leben der Gesellschaft teilhaben zu können? Zur Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs gibt es in Baden-Württemberg ein ganz neues, einheitliches Verfahren. Auch die Verfahren der Kostenübernahme und der Kostenabrechnung haben sich komplett verändert. Dabei wird den Menschen mit Behinderung jetzt auch mehr Eigenverantwortung übertragen.

Übergangsvereinbarung Der mehrstufige und mehrjährige Umstellungsprozess ist sehr komplex und aufwendig und hat sich in ganz Baden-Württemberg erheblich verzögert. Aktuell gilt landesweit noch eine Übergangsvereinbarung, die aufgrund der zahlreichen ungeklärten Themen auf Landesebene bis Ende 2023 verlängert werden musste.