Bevor Sybille Gutmann ihre Berufung in der Atemtherapie fand, arbeitete sie im Regierungspräsidium in Stuttgart. Foto: Alexander Becher
Von Carolin Aichholz
Backnang. Was bei allen Menschen eigentlich so automatisch passiert, dass man selten darüber nachdenkt, ist für Sybille Gutmanns Arbeit der Dreh- und Angelpunkt. Die Backnangerin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Atmung ihrer Kunden. Als Atemtherapeutin bietet sie Kurse und Behandlungen an, in denen sie unter anderem mit speziellen Übungen gezielt das Wohlbefinden der Menschen steigern möchte.
In ihren Kursen und Behandlungen nach der Lehre von Ilse Middendorf (siehe Infotext) versucht sie zunächst immer, die Menschen, die zu ihr kommen, für den eigenen Atem zu sensibilisieren und sie mal „in sich hineinzuhorchen“ zu lassen. „Der Atem sagt viel über einen Menschen und seine aktuelle Situation aus“, sagt die 62-Jährige.
Nicht umsonst stockt uns der Atem, wenn wir uns erschrecken, wir halten den Atem an, wenn wir sehr gespannt sind oder geraten bei anstrengenden Tätigkeiten außer Atem. „Viele Menschen beschäftigen sich aber erst dann mit der eigenen Atmung, wenn etwas nicht mehr so funktioniert, wie es sollte“, sagt Sybille Gutmann.
Dem Atmen das Fließen erleichtern
In verschiedenen Übungen, die an Körperstellen ansetzen, die man als Laie nicht erwarten würde, setzt sie Impulse, die sich direkt auf die Atmung auswirken können. „Die Füße sind sehr wichtig, denn sie erden uns im wahrsten Sinne des Wortes.“ Durch regelmäßige Fußmassagen sollen die Füße weich und beweglich bleiben.
Der Rücken sei ebenso ein wichtiger Faktor für einen fließenden Atem, erklärt Sybille Gutmann. „Wir denken zwar immer, dass die Lungen vorne im Brustkorb sind, da brauchen aber auch noch andere Organe Platz. Und ein großer Teil der Lungen befindet sich auch im Rücken. Wenn der etwa von zu viel Sitzen ganz verspannt ist, kann auch automatisch die Atmung nicht mehr so gut fließen.“
Damit die Atembewegung durch den ganzen Körper gehen kann, arbeitet sie in ihren Behandlungen darum auch oft gegen Verspannungen und verklebte Faszien. „Das hat einen riesigen Einfluss auf das Wohlbefinden des ganzen Körpers.“ Dabei spielt auch die Bewegung selbst eine große Rolle, denn viele Teile des Körpers müssen extra gelockert werden.
Jede Atmung ist einzigartig
Nach jeder absolvierten Übung erspürt Sybille Gutmann mit ihren Kursteilnehmern, was sich an ihrer Atmung und ihrem allgemeinen Wohlbefinden verändert hat. „Wir fühlen, dass schon kleine Bewegungen und Übungen eine große Wirkung haben können“, sagt Sybille Gutmann.
Was sie den Menschen, die zu ihr kommen, bei einer Behandlung nicht beibringt, ist eine bestimmte Art, zu atmen. „Denn das kann gar nicht funktionieren. Jeder Mensch und jede Atmung ist einzigartig, mit einem eigenen Rhythmus.“
Oftmals kommen vor allem jüngere Kunden zu ihr, weil sie denken, dass sie falsch atmen und gar nicht mehr wissen, wie das richtig gehe. „Atem darf sein, wie er ist, er ist richtig, wie er ist, und er verändert sich oft, weil er anzeigt, was gerade in einem Menschen los ist.“ Laut Sybille Gutmann entstehen dabei Erwartungen, die man gar nicht erfüllen kann. Die Atmung sei etwas Natürliches und das solle sie auch immer bleiben. Ihre Kursteilnehmer und Kunden entwickeln sich dabei stets weiter. „Und ich mich natürlich auch“ , sagt sie und lächelt.
Sie fand über Umwege zu ihrem Beruf
Denn bei Sybille Gutmann dauerte es ebenfalls einige Zeit, bis sie überhaupt zu ihrem heutigen Beruf fand. Ursprünglich arbeitete sie nach ihrem Verwaltungsstudium im Regierungspräsidium in Stuttgart. Doch bereits nach der Geburt ihrer drei Kinder bemerkte sie recht schnell, dass das nicht der Job sein würde, der sie bis zum Renteneintritt erfüllen würde und sollte.
Dann entdeckte sie den „erfahrbaren Atem“ nach der Lehre von Ilse Middendorf für sich und ließ sich in München zur Atemtherapeutin ausbilden. Anfangs arbeitete sie nebenher noch in Teilzeit im Regierungspräsidium. „Doch ich hatte auch schon meine Kinder, meinen Haushalt, Hühner im Garten und die Kurse am Wochenende, das wurde mir dann doch zu viel“, sagt Sybille Gutmann.
Auch wenn ihr damaliger Personalchef sie nur widerwillig gehen ließ, war sie sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Aber bestimmt würde nicht jeder einfach so eine Verbeamtung auf Lebenszeit aufgeben, um Atemtherapeutin zu werden“, sagt sie heute und schmunzelt.
Ihre Ausbildung beendete sie im Jahr 2003 und bot bald Atemkurse für Gruppen an, einige Zeit später dann auch Einzelbehandlungen. Sie bemerkte schnell, wie gut ihr die Arbeit tat. „Ich bin in meinem früheren Beruf so oft mit Kopfschmerzen aus dem Büro gegangen. Mein Körper hat mir gezeigt, dass das nicht der richtige Beruf für mich ist.“
Lungenerkrankungen, Long Covid oder psychosomatische Erkrankungen werden therapiert
Nun kann sie jeden Arbeitstag genießen und sieht, welchen Einfluss ihre Arbeit auf die Menschen hat, die in ihre Praxis kommen oder ihre Kurse buchen. Einige von ihnen kommen bereits seit 17 Jahren zu ihr. Viele Ärzte in Backnang empfehlen ihren Patienten bei Bedarf eine Therapie bei ihr, sowohl bei verschiedenen Lungenerkrankungen als auch bei psychosomatischen Leiden. Sie erlebt nun auch, dass viele Menschen infolge einer Coronaerkrankung lange mit Atemproblemen zu kämpfen haben oder unter Long Covid leiden. Diese Patienten seien bei ihr richtig, bezahlt wird die Atemtherapie von den Krankenkassen jedoch nur selten. Etwa als freiwillige Leistung mancher Privatkassen, die eine ärztlich verordnete Atemtherapie erstatten. Bei gesetzlichen Krankenkassen ist diese Leistung jedoch seit vielen Jahren gar nicht mehr erstattungsfähig oder nur dann, wenn ein Physiotherapeut sie erbringt. In der Regel bezahlen die Menschen, die zu Sybille Gutmann kommen, sie darum selbst.
Besonders viel Freude hat sie an ihrem Beruf, wenn sie sieht, dass sie den Menschen dabei helfen kann, sich wohler in ihrem eigenen Körper zu fühlen. „Manche gehen hier raus und sind viel entspannter als vorher. Und andere können aus der Atemtherapie sehr viel Energie schöpfen.“
Begründerin Ilse Mittendorf wurde 1910 in Frankenberg in Sachsen geboren und ließ sich zur Gymnastiklehrerin ausbilden. Sie absolvierte in Baden-Baden eine Atemausbildung und gründete mit Mitte 20 eine eigene Praxis in Berlin. Middendorf gab bis 2004 zahlreiche Fortbildungsseminare im In- und Ausland. Sie starb im Alter von 98 Jahren in Berlin.
Atemlehre Das Atmen soll nach Middendorf bewusst erfahren werden, aber ohne den Atem vom Willen oder Denken zu steuern. Jeder Mensch und sein Atem sind einzigartig. Man soll seinen ursprünglichen, natürlichen Rhythmus kennenlernen.
Ateminstitut Middendorf gründete 1965 in Berlin ein Institut für Atemtherapie und Atemunterricht. Dort werden bis heute Atemtherapeuten ausgebildet.