Boris Palmer, der OB von Tübingen, rockt mit starken Worten die ZDF-Talkrunde. Er wettert über „Wohltaten“ der neuen Koalition und eine Familie, die 6000 Euro Bürgergeld kassiert.
Der Tübinger OB war in der ZDF-Talkrunde mit Markus Lanz zu Gast. (Archivbild)
Von Christoph Link, Michael Maier
Wenn einem Markus Lanz nicht ins Wort fällt, zeugt das schon von hohem Respekt: Seinem Studiogast Boris Palmer gegenüber, dem Ex-Grünen und derzeit parteilosen OB von Tübingen, wagte Lanz jedenfalls gar nichts. Sprechen Sie, Herr Palmer, so lautete die Lanz’sche Devise am Dienstagabend im ZDF. Und der ließ sich nicht lange bitten. Es ging um die Finanznöte der Kommunen und neben Palmer waren noch die Oberbürgermeisterin der klammen Stadt Ludwigshafen, Jutta Steinruck (parteilos), der Bürgermeister von Heide in Schleswig-Holstein, Oliver Schmidt-Gutzat (SPD) sowie der Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises und Präsident des Deutschen Landkreistages, Achim Brötel (CDU), geladen.
Um es vorweg zu sagen: Zwischen Palmer und dem CDU-Mann Brötel passte an diesem Abend kein Blatt, sie ergänzten sich in Vollkommenheit. Die deutschen Kommunen haben ihre Defizite binnen einen Jahres vervierfacht auf gut 24 Milliarden Euro in 2024 und viele überlegen nun, was sie tun sollen. Schwimmbäder schließen, Kulturförderung kürzen, Bibliothekszeiten einschränken? Das war die Ausgangslage der Sendung.
Palmer berichtete, dass auch im „reichen Baden-Württemberg“ derzeit 90 Prozent aller Kommunen nicht genug Geld hätten, um ihre laufenden Ausgaben zu bezahlen. Und die Gründe dafür seien vielfältig: „weitaus überhöhte Tarifabschlüsse“ – also gestiegenen Personalkosten - sowie sinkende Steuereinnahmen. Die Defizite werden „noch schlimmer“, prognostizierte Palmer. Außerdem steige ständig die Kreisumlage für Städte wie Tübingen, also der „Griff des Landkreises in unsere Stadtkasse“: Flüchtlingskosten, Bürgergeld, Jugendhilfe, Zuschüsse für defizitäre Krankenhäuser (Tübingen ist da außen vor, da es eine Uni-Klinik hat) sowie die Folgen des Bundesteilhabegesetzes, das Behinderten einen individuellen Rechtsanspruch auf eine Leistungsgewährung erlaube. Gerade dieses Gesetz sei zwar „gut gemeint“, aber ein „Bürokratiemonster“, sagte Palmer und ergänzte in seiner ironisch gemeinten aber oft deplatzierten Art: „Behinderte haben jetzt auch einen Anspruch auf Bürokratie.“
Palmer ruft in Berlin an
Das Teilhabegesetz habe die Kosten der Verwaltung um 30 bis 40 Prozent erhöht, so Palmer, in jedem Einzelfall müsse jetzt geprüft werden, wie viele Stunden Betreuung notwendig seien und welche Unterkunftsform angebracht sei. Wie ein roter Faden zog sich durch die Sendung, dass der Bund anschafft, und die Kommunen es bezahlen und ausbaden müssen. Dass Versprechen im neuen Koalitionsvertrag, einen Zukunftspakt von Bund, Ländern und Kommunen zu schließen um „die finanzielle Handlungsfähigkeit zu stärken und eine umfassende Aufgaben- und Kostenkritik“ vorzunehmen, ist gleichwohl positiv aufgenommen worden. Skepsis aber bleibt.
Auf die Kommunen hört niemand, und vom Bund ruft die keiner an, um nach Rat zu fragen. Das war schon in den Antworten auf eine Eingangsfrage von Lanz deutlich geworden, die Palmer immerhin als einziger mit dem Satz „Ich rufe die an“ beantwortete. Palmers Unmut über die Bund-Länder-Städte-Hierarchie ist klar geworden. Da führe der Bund das Recht auf Ganztagsbetreuung in den Schulen ein, überlasse aber die Finanzierung von Personal und Räumlichkeiten den Kommunen. Manchmal verspreche der Bund eine Förderung von zehn Prozent von Infrastrukturkosten und überlasse den Rest den Kommunen - ähnlich verfahre das Land: „Das ist staatliche Zechprellerei in Berlin und Stuttgart.“ Dass im Infrastruktursondervermögen des Bundes 100 Milliarden Euro für die Kommunen reserviert sind, sah Palmer ziemlich uneuphorisch. Da entfielen vielleicht vier Millionen Euro auf Tübingen, damit könne er nicht einmal eine marode Brücke finanzieren, deren Überfahrt jetzt nur noch für maximal sechs Tonnen erlaubt sei, weswegen jetzt der Schwerverkehr durch die Altstadt laufen müssen.
Palmer kritisiert „Wohltaten“ der Koalition bei Lanz
Auch sonst sparte Palmer nicht mit Kritik an Schwarz-Rot und geißelte die „Wohltaten“ der neuen Regierungskoalition. Man habe jetzt einen Fachkräftemangel, eine längere Lebenserwartung und die in Rente gehende Boomer-Generation und da sei es für ihn „schwer erträglich“, dass es die neue Koalition nicht geschafft habe, die Rente mit 63 Jahren abzuschaffen, das sei eine zehn Milliarde Eure teure soziale Wohltat, „garniert mit der Söder‘schen Mütterrente“. Angesichts der weltpolitischen Lagemüsse Deutschland doch „verdammt nochmal die Arme hoch krempeln“.
Gut möglich, dass die Rentner jetzt „das Richtige“ wählten, man müsse aber auch an die Jungen denken, aber auch die seien nicht vor Herausforderungen befreit. Deutschland habe die höchsten Sozialleistungen, aber gleichzeitig die geringsten Arbeits- und längsten Urlaubszeiten. Wie lange das gut gehen solle, das frage er sich. Ihm sei der Fall einer siebenköpfigen Familie bekannt, die 6000 Euro Bürgergeld im Monat erhalte. Die habe eine „sauteure Wohnung“, deren Miete übernommen werde für ein Jahr . Für Palmer ist das unverständlich: „Der Staat kann nicht jedes Risiko abschirmen.“ Wenn man eine teure Wohnung habe und in eine Notlage gerate, müsse man halt umziehen.
Deutschkurs gestrichen
In der Studiorunde stieß das nicht auf Widerspruch. „Sanktionieren, härter sein, mehr verlangen“, das meinte auch Jutta Steinruck, die Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen, eine Stadt, die mit mehr als einer Milliarde Euro in der Kreide steht und nicht weiß, wo sie sparen soll. Vor zwei Jahren trat Steinruck aus der SPD aus wegen mangelnder finanzieller Spielräume, die 62-jährige wird deshalb auch nicht mehr kandidieren für eine zweite Amtszeit. „Wir prüfen eine Klage gegen Bund und Land wegen der Verletzung des Konnexitätsprinzips.“ Dieses Prinzip besagt, dass Aufgaben die von einer oberen Ebene auf Kommunen übertragen werden, von den „Oberen“ auch bezahlt wird. Steinruck schilderte, wie drastisch der Geldmangel in ihre Kommune einschneide, so leide die Stadt unter den hohen Quoten an Migrantenkindern, die in Deutsch scheitern und nicht einmal die Versetzung in die zweite Grundschulklasse schaffen. Ein „Mama-Programm“ zur Vermittlung von Deutsch an Mütter in den Kitas, sei aus Finanzproblemen eingestellt worden.
Lanz gestern: Problem mit Gangs in Heide
Ähnlich äußerte sich der Bürgermeister von Heide in Schleswig-Holstein, Schmidt-Gutzat. Die 22.000-Einwohner-Stadt fühle sich mit einem 101-Millionen-Euro- teuren Neubau eines Schulzentrums als Ersatz für ein marodes Schulgebäude aus den 70er Jahren klar überfordert. Die Verschuldung der Stadt werde von 2018 bis 2028 von 20 Millionen auf 144 Millionen Euro steigen. Bundesweit Schlagzeilen machte Heide mit der Gewalt der Gangs von Jugendlichen, die die Stadt mit einem Bündel von Maßnahmen jetzt in den Griff bekommen hat.
Dazu zählt auch die Einführung eines städtischen Ordnungsdienstes, der ungewöhnlich ist für eine Kleinstadt und 300.000 Euro im Jahr kostet. Eigentlich, so Schmidt-Gutzat, sei Sicherheit eine Aufgabe der Landespolizei. Landkreispräsident Brötel sieht die Lage der Kommunen bald als „dramatisch“ an, angesichts der Fülle der auferlegten Aufgaben von Bund und Ländern sowie fehlendem Personal und Mitteln: „Auf kommunaler Ebene fährt man an die Wand.“ Jetzt werde beispielsweise oft von den zurück gehenden Asylbewerberzahlen gesprochen, Tatsache aber sei, dass in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Asylanträge auf 2,8 Millionen angewachsen sei und die der Flüchtlinge aus der Ukraine auf 1,2 Millionen. „Der Berg wächst langsamer, aber er wächst.“ Boris Palmer konnte dem nur zupflichten: „Wir haben keinen Platz mehr in den Kitas, in Schulen, auf den städtischen Wohnungsmärkten und in den Arztpraxen – in den Systemen sind die Grenzen erreicht.“ Markus Lanz dankte am Ende der Sendung für den „spannenden Austausch mit Leuten, die es am Ende zu machen haben und zu entscheiden haben“ – also, ein gehöriger Respekt vor Kommunalpolitikern,