Das selbst ernannteParadies wird vom Terror eingeholt

Neuseeland ist geschockt: Bei einem Angriff auf zwei Moscheen sterben in der Stadt Christchurch mindestens 49 Menschen

Von Sissi Stein-Abelund Willi Germund

Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern stuft die Attacken in Christchurch als „terroristischen Angriff“ ein. Hat die Politik den Rechtsterror unterschätzt?

Christchurch Es sieht aus wie Fließbandarbeit. Eine Ambulanz fährt vor, die Hecktüren gehen auf, die Trage gleitet heraus, wird durch die Automatiktüren ins Krankenhaus geschoben. Der junge Mann auf der Liege regt sich nicht. Abfahrt. Der nächste Notarztwagen fährt vor. Sie laden die Menschen aus, die das Massaker von Christchurch überlebt haben. Sie haben Glück gehabt. So wie die Cricket-Nationalmannschaft von Bangladesch, die gerade auf dem Weg zum Freitagsgebet in der Masjid-Al-Noor-Moschee ist, mitten in der Stadt, als gegen 13.40 Uhr (Ortszeit) ein rechtsextremistischer Attentäter das Feuer auf die 200 oder 300 Menschen in der Glaubensstätte eröffnet und mindestens 41 Mitglieder dieser muslimischen Gemeinde umbringt. Weitere sieben Menschen sterben bei einem fast gleichzeitig verübten Anschlag in der Moschee in der Linwood Avenue, einem der Vororte der größten Stadt der Südinsel Neuseelands.

Drei Attentäter, darunter ein 28 Jahre alter blonder Australier, und eine weitere nicht direkt mit diesem Trio in Verbindung stehende Person werden festgenommen. Drei Männer und eine Frau. Der Terror hat das selbst ernannte Paradies am anderen Ende der Welt eingeholt, ein kleines Land mit nur 4,6 Millionen Einwohnern, die sich immun gegen Extremismus von links, rechts und von religiösen Fanatikern wähnten. Die 49 Toten sind Migranten und Flüchtlinge. Menschen, die vor der Gewalt in ihren Heimatländern flohen. „Ich hätte nie gedacht, dass so etwas in Christchurch passieren könnte oder in Neuseeland“, fasst Bürgermeisterin Lianne Dalziel die Verstörung in Worte, auch wenn sie kaum Worte findet.

Der Täter von der Masjid-Al-Noor-Moschee flüchtet in Richtung Süden. Auf der Brougham Street, das ist die größte Ost-West-Achse südlich der City, rammt ein Polizeifahrzeug seinen grauen Kombi von der Straße, schwer bewaffnete Beamte zerren ihn aus dem Wagen, werfen ihn auf den Gehweg und machen ihn dingfest. Sie finden Autobomben und entschärfen sie. Wie der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik hat auch der Todesschütze von Christchurch ein Manifest verfasst, in dem er seine Tat rechtfertigt und Einblick in seine hasserfüllte Gedankenwelt gibt.

In der Stadt liegen die Opfer noch in ihrem Blut, als Australiens Premierminister Scott Morrison mit betretenem Gesicht auf einer Pressekonferenz in Canberra gestehen muss: „Bei mindestens einem der Täter handelt es sich um einen rechtsextremen Bürger Australiens.“ Ausgerechnet der Mann, der als Einwanderungsminister Tausende von Flüchtlingen auf entlegenen Inseln in Lager steckte, muss sich nun den Vorwurf gefallen lassen, dass seine Politik Rechtsextremismus und Terror stärkte. Denn die Hoffnung der konservativen Regierungspartei Liberal Party, mit einer strikten Kontrolle die Zuwanderung zu begrenzen, führte nicht zu größerer Toleranz.

Seit drei Jahren beobachtet der australische Inlandsgeheimdienst einen starken Zuwachs bei Rechtsradikalen. Sie fühlen sich bestärkt, weil sie in einer Welle der wachsenden Fremdenfeindlichkeit schwimmen. Pauline Hanson von der Partei One Nation (Eine Nation) trommelt rechts von der Liberal Party seit Jahren für Privilegien von Weißen. Neil Erikson, der wegen Hetze gegen die rund 600 000 Muslime in der 25 Millionen Einwohner zählenden Nation verurteilt wurde, und ein Mann namens Blair Cottrell an der Spitze der United Patriots Front, der Hitler-Bilder in Schulräumen aufhängen lassen wollte, machen immer wieder von sich reden. Außerdem gibt es wachsende Verbindungen zu rechtsextremen Kreisen in den USA und Europa.

Während sich in Australien die Fronten zwischen weltoffenen Einwohnern und ihren auf Abschottung plädierenden Landsleuten verhärteten, steuerte Neuseeland bewusst einen anderen Kurs. Premierministerin Jacinda Ardern bot etwa an, 150 der von Australien im Inselstaat Nauru internierten 3000 Flüchtlinge aufzunehmen. Viele Neuseeländer, deren Regierung Elite-Einheiten nach Afghanistan und in den Irak schickte, waren bis zum Freitag überzeugt, dass trotz gelegentlicher Reibereien keine Gefahr der Gewalt bestand. Nach dem rechtsextremen Terroranschlag in Christchurch ermittelt die Polizei nun fieberhaft. Sie sucht nach einem rechtsradikalen Netzwerk, das sie möglicherweise bislang übersehen hat.