Rausch und Rauch, Knutschen und Schwofen – nach der Hölle des Zweiten Weltkriegs, entdeckten die Deutschen in den 50er Jahren die Lust am Feiern, auch im Fasching. Das zeigt ein Blick in Familienalben.
Frisuren und Kleidung sind in den 50er Jahren von der amerikanischen Leichtigkeit inspiriert. Alte Zöpfe werden abgeschnitten.
Von Eva-Maria Manz und Lisa Welzhofer
Früher war mehr Exzess. Diesen Schluss lässt zumindest der Blick in die Familienalben zu, auf jene schwarz-weißen Bilder von illustren Hausbällen, ausschweifenden Trinkrunden in rauchgeschwängerten Wohnzimmern, von heißen Knutschereien und kuriosen Ringelreihen in Baströckchen vor Eiche rustikal.
Fast schon orgiastisch muten diese Schnappschüsse der Eltern- und Großeltern-Generation an, wenn man sie mit zeitgenössischen Party-Erfahrungen vergleicht, bei denen am veganen Buffet über Intervallfasten, Glukosespiegel und Triathloneinheiten geplaudert wird. „Einen Schluck Naturwein vielleicht?“ – „Pah, ich trinke schon lange nichts mehr!“
Der junge Mann ritt eben noch bis in den Kessel von Stalingrad
Tatsächlich scheint es, als hätten die Deutschen in den 50er und 60er Jahren das Feiern ganz neu entdeckt, als sei die junge Republik ein großer Schwofkeller gewesen. Dabei war man der Hölle des Zweiten Weltkriegs gerade erst entkommen. Es ist kein Tanz auf dem Vulkan, vielmehr einer auf jener Asche, die sein Ausbruch übrig ließ.
Der junge Mann, der auf den Fotos gleich mit mehreren Damen poussiert, ritt eben noch als Leutnant durch den russischen Winter bis in den Kessel von Stalingrad – und kam erst 1950 mit 45 Kilo Lebendgewicht aus der Gefangenschaft zurück. Auf den Fotos sind seine schönen hohen Wangen noch ein wenig hohl.
Manche der lustigen Frauen im weißen Damastrock oder aus der Runde mit bauchiger Flasche kämpften sich eben noch im Treck von Osten her in ein Land, das die Neuankömmlinge nicht gerade herzlich empfing. Ihre Männer waren im Krieg gefallen, verschollen, umgebracht. Oft existierte nur noch der Rumpf einer Familie.
Die da so wild feschten, sind in diesen Jahren damit beschäftigt, wieder Fuß zu fassen, in einer neuen Zeit, nicht wenige in einer neuen Umgebung. Die Erinnerungen und Traumata der kriegsversehrten Männer und Frauen lösen sich in Rausch und Rauch für ein paar Stunden auf. Es ist ein Fest auch des Überlebens.
Die Flüchtlinge haben ihre alte Heimat hinter sich gelassen. Im neuen Land müssen die preußischen, schlesischen oder donauschwäbischen Familien bei Null anfangen. Man hat ihnen alles genommen, aber nicht ihren Lebenswillen. In dieser Fremde, am Nullpunkt ihrer Existenzen, herrscht jetzt eine große Lust aufs Leben. Gerade dann. Kinder werden geboren, Häuser gebaut – und so ausgelassen gefeiert wie selten zuvor.
Trotz Trauer und Schrecken pulsiert in Berlin schon wieder das Nachtleben
Vielleicht tut sich gerade im Exzess die ganze Spannbreite menschlicher Existenz auf, dieser schmale Grat zwischen Spaß und Ernst, orgiastischen Höhen und tiefen Abstürzen, Was-kostet-die-Welt-Attitüde und elendem Kater.
Wer wüsste das besser als die Menschen Berlins, seit jeher deutsches Epizentrum des Hedonismus? In den 50ern mehr Skelett als Stadt, pulsiert dort trotz Tod, Trauer und Schrecken das Nachtleben. Berlin ist als Frontstadt im Kalten Krieg in vier Zonen geteilt, im Westen der Stadt ist man zunehmend eingekesselt. Da kann der Swing der Amerikaner eine Brücke in den Westen schlagen.
Überall im Land trifft die Sehnsucht nach Spaß und Leichtigkeit auf wachsenden Wohlstand – zumindest in der BRD. Auf einem dünnen Firnis aus Optimismus und Verdrängung tanzen die Menschen Richtung Wirtschaftswunder. Nur nicht zurück schauen – bekanntlich hat diese Einstellung für die nachfolgenden Generationen in Deutschland Schattenseiten.
War diese Feierei also auch eine Lüge, ein Augen-Verschließen vor der Realität? Oder Kehrseite einer Existenz, die dem Abgrund gerade so entronnen ist? Das ist eine Dialektik, für die nicht zuletzt auch der Fasching steht. Viele Umzüge, wie wir sie heute kennen, werden nach dem Krieg erst im Laufe der 50er Jahre wieder groß. Das Fernsehen als neues Medium verbreitet vor allem den Rheinischen Karneval deutschlandweit.
In manchen Gegenden etabliert sich jetzt so feucht-fröhlich wie selten zuvor eine umfassende Feierkultur zur „Fünften Jahreszeit“. Die Menschen bauen wochenlang aufwendig und in Gemeinschaft eigene Motivwagen für die Umzüge, nähen Kostüme und studieren Gardetänze ein. Die gesamte Winterzeit über feiert man in den Faschingshochburgen bei wilden Bällen und Prunksitzungen. Vielleicht überdauert noch heute gerade im Fasching die Feierkultur der Nachkriegszeit am authentischsten.