Ein Stück Wegs gemeinsam gehen

TSG Backnang 1846 lädt zu einem bewegten Stadtspaziergang für demenziell erkrankte Menschen ein

Wunderbar gemacht. Die drei Herren vor dem Backnanger Rathaus spenden den Stadtspaziergängern am Ende der Tour Applaus. Denn auch die Bewegungseinheiten waren von den Teilnehmern, zum Teil mit demenzieller Symptomatik, mit Freude absolviert worden.

Ein Stück Wegs gemeinsam gehen

Beifall für Übungsleiterin Andrea Leissner (rechts), Stadtführerin Judit Riedel-Orlai (Zweite von rechts) und die Teilnehmer. Fotos: I. Knack

Von Ingrid Knack

BACKNANG. „Dabei sein. Mitmachen. Erleben.“ Das ist das Motto des bewegten Stadtspaziergangs der TSG Backnang 1846 für demenziell erkrankte Menschen. An markanten Punkten der Stadt werden Erinnerungen wach, zudem wird mit leichten gymnastischen Übungen die allgemeine Beweglichkeit gefördert. TSG-Urgestein Claudia Krimmer ist die Ideengeberin, sie wird unterstützt von Stadtführerin Judit Riedel-Orlai und Andrea Leissner, Rehasport-Übungsleiterin für Neurologie und Orthopädie.

Bevor es auf Tour durch die Stadt geht, gibt es erst einmal ein Kennenlernen bei Kaffee und Kuchen im Café Segenswerk. Die an Demenz Erkrankten und deren Angehörige werden dazu eingeladen. Markus Kübler, Betriebsleiter des Cafés, übergibt Claudia Krimmer Gutscheine. Gutscheine, die Menschen bezahlt haben, die jemandem ein warmes Essen und ein Softgetränk oder eben einen Kaffee und ein Stück Kuchen bezahlen möchten. „Das passt genau zu unserem Verständnis für Hilfe. Das ist direkte Hilfe. Das finde ich total schön“, sagt Kübler.

Nachhaltigkeitsprojekt nahm beim Weltalzheimertag seinen Anfang

Diese Art von Stadtspaziergang ist für alle Neuland. Für die Verantwortlichen als auch für die Gäste. Es gab zwar schon mal so etwas wie einen Probelauf am Weltalzheimertag im September vergangenen Jahres unter dem Motto „Backnang bewegt sich – Demenz. Dabei und mittendrin“. An diesem 21. September standen aber noch andere Bewegungsangebote und Fachvorträge auf der Agenda, der Stadtspaziergang war ein Programmpunkt unter vielen. Deutlich wurde dabei aber, dass sich die TSG Backnang 1846 angesichts einer steigenden Zahl von an Demenz leidenden Menschen auf die Fahnen geschrieben hat, speziell für diese Zielgruppe besondere Bewegungsmöglichkeiten anzubieten. „Auch andere Veranstalter waren mit im Boot. Aber es war klar, dass ,Backnang bewegt sich – Demenz. Dabei und mittendrin’ nachhaltig angelegt ist. Und so war die Idee geboren, den Stadtspaziergang als Nachhaltigkeitsprojekt zu planen“, erklärt Krimmer. Zur Vorgeschichte gehören unterm Strich zudem ein Stadtspaziergang mit Angehörigen von an Demenz Erkrankten mit Bewegungseinheiten und ein Spaziergang mit Erkrankten ohne Bewegungseinheiten. „Das ist jetzt die Zusammenführung“, so Krimmer.

Nun befinden wir uns also mittendrin in der Premiere eines Nachhaltigkeitsprojekts. Es ist eine fröhliche Kaffeerunde. Berührungsängste sind nicht zu spüren. Ein Gespräch kommt gleich in Gang, obwohl sich die Teilnehmer nicht kennen. Auch der einstige Erste Bürgermeister und jetzige Lebenshilfe-Vorsitzende und zweite Vorsitzende des Seniorentreffs 60 plus, Michael Balzer, ist mit dabei und gibt später beim Spaziergang hie und da Fachwissen weiter.

Dass der Einstieg in ein Bewegungsangebot so aussieht, hat seinen guten Grund. Eventuelle Hemmschwellen können auf diese Weise schnell abgebaut werden. Und man lässt sich Zeit. Niemand muss befürchten, nicht mithalten zu können. Leitungsdruck ist hier nicht gefragt. Ganz wichtig ist außerdem, dass die Menschen sich in einer ihnen vertrauten Umgebung bewegen, Hintergründe über Gebäude erfahren, an denen sie schon tausendmal vorbeigegangen sind – die Gymnastikeinheiten werden geschickt in den Spaziergang eingebaut.

Nach dem Kaffeetrinken geht’s zunächst zum Stiftshof. Judit Riedel-Orlai zeigt ein Foto des Areals aus früheren Zeiten. „Vor über zehn Jahren. Da ist einiges gemacht worden“, kommentiert sie. Die Rede ist ferner von den Hessonen und den Backnanger Markgrafen. „Ihre Geschichte fing mit einer Hochzeit an. Mit dieser Eheschließung wurde Backnang badisch.“ Die Stadtführerin zaubert aus ihrer Tasche eine Kopfbedeckung von anno dazumal. „Solche Hauben haben die unverheirateten Frauen getragen.“ Die Gäste dürfen das schöne Stück anfassen, den Stoff fühlen. Auch sie kommen ins Erzählen. Es ist eine nette Runde, die zusammen einen kurzweiligen Nachmittag verbringt Wenn Andrea Leissner ein paar Gymnastikübungen ins Stadttourismusprogramm einbaut, fügt sich das harmonisch ins Gesamtkonzept ein. Alle machen gerne mit, wenn sie etwa ein imaginäres Schwert schwingen sollen – Anknüpfungspunkt ist die Markgrafenskulptur auf dem Stiftshof. Zwischen Gymnastik und Geschichte besteht plötzlich eine Verbindung – und man spürt, dass es gut tut, seine Muskeln zu fordern, eine bestimmte Form der Heiterkeit stellt sich ein. Gleich danach dürfen eine Schuhsohle aus Leder und ein Stück Leder angefasst werden, die Judit Riedel-Orlai mitgebracht hat. Weil Backnang ja einmal eine Gerberstadt war. Beim Blick vom Freithof hinunter auf die Bleichwiese kommt Riedel-Orlai nicht nur auf die Lederindustrie, sondern auch auf das ehemalige Kaufhaus Max Mayer zu sprechen, in dem offensichtlich alle Teilnehmer schon eingekauft haben. Lang lang ist’s her. In der Galerie der Stadt besichtigen die Spaziergänger den gotischen Chor, anschließend geht es hinunter zum Rathaus zur Skulpturengruppe „Die Claque“ von Guido Messer. Die Claqueure beklatschen die Stadtspaziergänger und die Stadtspaziergänger die Menschen, die mit ihnen dieses Stück Wegs gegangen sind. Am Gänsebrunnen endet die Tour. Es gibt noch eine letzte Übungseinheit. Diesmal geht es um Bewegung, Konzentration und Koordination. Eine Passantin bleibt stehen und macht mit. Premiere gelungen.

Info
„Eine Bewegung in die richtige Richtung“

Weitere bewegte Stadtspaziergänge für demenziell erkrankte Menschen gibt es am 12. Juli und am 18. Oktober dieses Jahres. Anmelden kann man sich über die Geschäftsstelle der TSG Backnang unter Telefon 07191/86187 oder per E-Mail an claudia.krimmer@tsg-backnang.de

OB Frank Nopper schrieb in seinem Grußwort zu den Backnanger Veranstaltungen zum Weltalzheimertag: Viele Veranstaltungen befassen sich mit Demenz, aber nur ganz wenige mit Demenz und Bewegung. Es ist deswegen gut und richtig, dass die TSG Backnang 1846 diese Lücke schließt. Bisher gibt es zwar kein Heilmittel gegen Demenz, aber man kann immerhin sagen: Sport, Spiel und Bewegung wirken präventiv und mildern die Demenzerkrankung ab, jedenfalls können sie dem Erkrankten und dessen Angehörigen neuen Mut, Zuversicht und Selbstbewusstsein geben. Sport, Spiel und Bewegung entreißt den Demenzerkrankten die Vereinsamung und macht sie zum Teil einer sportlichen Gemeinschaft, in der freundschaftliche Bande geknüpft werden können und der Geist wacher bleibt. Und Sport, Spiel und Bewegung sind auch eine Form des Helfens, aber es braucht auch eine Kultur des Helfens. Die Betroffenen brauchen Wertschätzung, Respekt und empathische Zuwendung und den Zugang zu den Bewegungsmöglichkeiten, aber sie brauchen vor allem auch den Zugang zu unseren Köpfen und Herzen. Deswegen ist die Initiative der TSG Backnang 1846, die mehr Bewegung für Ältere und Betroffene zum Inhalt hat, eine Bewegung in die richtige Richtung, eine Bewegung für neue sportliche Aktivitäten innerhalb unserer Sportvereine und eine Bewegung für ein besseres Leben der Demenzerkrankten.