„Europa steht unter Stress“

Wolfgang Schäuble über Impulse für Europa und Nationalismus

Von Christopher Ziedlerund Siri Warrlich

Interview - An diesem Dienstag wird der neue deutsch-französische Vertrag unterzeichnet. Darin sieht Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble Vorbildcharakter für die EU. Beim Umgang mit der AfD warnt er vor Dramatisierung.

Frage: Herr Schäuble, Sie sind im Ortenaukreis aufgewachsen, der an Frankreich grenzt. Erinnern Sie sich an Ihr erstes französisches Erlebnis?

Antwort: In meiner Schulzeit in den fünfziger Jahren haben wir den Kriegsgräberfriedhof Bärenstall im Elsass besucht. Das war meine erste Grenzüberschreitung.

Frage: Und Ihr schönstes Erlebnis?

Antwort: Da gibt es zum Glück einige. Besonders berührt hat mich, dass ich vergangenes Jahr eine Rede vor der Nationalversammlung halten durfte. Ich war der erste deutsche Minister, der an einer französischen Kabinettssitzung teilnahm. Solche Dinge sind aber nicht entscheidend – entscheidend war zum Beispiel Präsident Charles de Gaulles Rede an die deutsche Jugend.

Frage: Hatder neue Élyséevertragdas Zeug dazu, damit in eine Reihe gestellt zu werden?

Antwort: Europa braucht die integrative Rolle von Frankreich und Deutschland – mit dem Brexit wird Großbritannien keine führende Kraft der europäischen Integration mehr sein können. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist entscheidend, um Europa voranzubringen. Wenn beide Länder in Fragen zusammenarbeiten, die noch nicht gesamteuropäisch geregelt sind, hat das Vorbildcharakter.

Frage: An welche Punkte im Vertrag denken Sie da?

Antwort: Nehmen Sie die Möglichkeit, dass Grenzregionen von nationalen Gesetzen abweichen können, um gemeinsame Vorhaben leichter umsetzen zu können. Wenn der erste Schritt wäre, das einvernehmlich zwischen Lissabon und Sofia zu regeln, würden wir scheitern. Also versuchen wir es zuerst zwischen Straßburg und der Ortenau. Wir könnten anschließend einen solchen Vertrag auch mit Dänemark, Polen oder Tschechien abschließen. Und am Ende des Prozesses ist es in der EU mehrheitsfähig. So erhoffe ich mir das auch beim Steuerrecht: Wenn wir es schaffen, Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Bemessungsgrundlage bei der Körperschaftssteuer zu geben, sind wir auch in Europa einen Schritt weiter.

Frage: Der Aachener Vertrag enthält eine Beistandspflicht der Atommacht Frankreich. Hat sich Deutschland damit zusätzlichen Schutz organisiert, falls US-Präsident Donald Trump seine kolportierten Gedankenspiele eines Nato-Austritts wahr macht?

Antwort: Ich will den Vertrag nicht auf das Militärische verengt wissen. Richtig ist aber auch, was die Kanzlerin schon 2017 gesagt hat: Europa muss stärker als bisher Verantwortung übernehmen und für seine eigene Sicherheit sorgen – die entsprechende amerikanische Forderung ist weder neu noch unberechtigt. Wir alleine können das aber nicht. Insofern ist es richtig, stärker mit den Franzosen und den anderen Europäern zusammenzuarbeiten.

Frage: Die Abkommen gehen auf Emmanuel Macron zurück, der mit großen EU-Visionen ins Amt kam. Ist die deutsche Antwort zu dünn, wie Ihr Freund Friedrich Merz beklagt?

Antwort: Auf diese Frage will ich als Bundestagspräsident nicht antworten. Würde ich für den CDU-Vorsitz kandidieren, was ich sicherlich nicht mehr vorhabe, würde ich mich wohl dem Urteil von Friedrich Merz anschließen.

Frage: Sehen Sie die AfD eher als parteipolitischen Normalfall in Europa? Oder stellt sie angesichts unserer deutschen Vergangenheit eine besondere Gefahr dar?

Antwort: So habe ich früher gedacht. Ich war der Meinung, dass unsere deutsche Geschichte uns weniger anfällig macht – aber das ist gut 70 Jahre nach Kriegsende offenbar nicht mehr so. Wir machen dieselbe Erfahrung, wie sie uns in Amerika Sorge bereitet. Die gesamte westliche Moderne ist unter Stress. Überall erstarken populistische und nationalistische Kräfte. Wir müssen uns fragen, was wir falsch gemacht haben und besser machen können.

Frage: Und?

Antwort: Vor allem in der Flüchtlingspolitik ist es uns nicht rechtzeitig gelungen, in der weltweiten Kommunikation die Balance zwischen Hilfsbereitschaft und der Begrenztheit unserer Mittel herzustellen. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck hat das in einem Satz schön ausgedrückt: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt.“ Das sollte heute unumstritten sein – bei allem Respekt, da braucht es keine Aufarbeitungskommission. Dann haben wir auch noch eine Ost-West-Debatte daraus gemacht – ich war von Anfang an dagegen, eine gemeinsame Flüchtlingspolitik in erster Linie an der Frage der Verteilung von Flüchtlingen festzumachen. Die kann man nicht dekretieren. Wir hätten die Rechtsverbindlichkeit der Quote nicht in den Vordergrund der Debatte schieben dürfen – das war im Nachhinein nicht klug.

Frage: Sie haben kürzlich gesagt, man dürfe den Erfolg der AfD nicht überbewerten. Sehen Sie keine Parallelen zu Weimar, wenn staatlichen Institutionen diskreditiert werden?

Antwort: Die Zeit heute ist mit der vor bald hundert Jahren nicht vergleichbar. Die Weimarer Demokratie war jung, unsere Demokratie hat jahrzehntelange Erfahrung. Manche Bezüge aber gibt es, das stimmt. Nicht umsonst habe ich vor wenigen Tagen davor gewarnt, dass eine bestimmte Sprache zu Gewalt führen kann. Wir müssen zwar streiten, weil das Parlament sonst irrelevant wird. Aber demokratischer Streit und Gewaltlosigkeit gehören zusammen. Im Großen und Ganzen ist uns diese Balance im Bundestag bisher ganz gut gelungen, weshalb ich von falschen Dramatisierungen nichts halte.

Frage: Der Bundestag hat sich verändert. Manche Abgeordnete nennen das Klima „vergiftet“.

Antwort: Das ist auch so eine verbale Dramatisierung – ich habe keine Todesfälle registriert. Geändert hat sich, dass es sechs Fraktionen gibt statt vier. Wir hatten zuvor eine Entwicklung, dass immer mehr Menschen das Gefühl hatten, dass das, was sie denken und empfinden, in Bundestagsdebatten nicht vorkommt. Ob man das mag oder nicht – heute haben weniger Menschen Grund zu dieser Annahme. Ich kann nur raten: Macht mal halblang!

Frage: NichtMerz, dem Sie zutrauten die AfD kleinzukriegen, führt die CDU, sondern Annegret Kramp-Karrenbauer. Kann sie es auch?

Antwort: Ich habe vor dem Parteitag gesagt, Friedrich Merz könnte die Debatte wieder in die Mitte des demokratischen Spektrums bringen, damit die Ränder weniger wichtig werden. Der Parteitag hat anders entschieden, und jetzt ist es Annegret Kramp-Karrenbauer, die das leisten muss – ich traue ihr das auch zu.