Diesel-Debatte - Die Dieselfahrverbote in Stuttgart und anderen Städten werden mit der Überschreitung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid begründet. Doch wie begründet sind diese eigentlich?
STuttgartEs soll immer noch Leute geben, die glauben, dass die moderne Wissenschaft eindeutige und endgültige Antworten auf alle wichtigen Fragen unserer Existenz geben kann. Doch die Gewissheit, die Bürgern und Politikern das Leben leichter machen würde, gibt es in vielen Bereichen leider nicht. Wissenschaftler fällen oft keine absoluten Urteile, sondern treffen Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der dieses oder jenes eintritt.
Das gilt erst recht für komplexe Themen wie die gesundheitlichen Wirkungen von Luftschadstoffen. So üben jetzt immerhin gut hundert Lungenärzte Kritik am EU-Stickoxid-Grenzwert, dessen Überschreitung zu Dieselfahrverboten in mehreren deutschen Städten geführt hat. Der geltende Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid (NO2) pro Kubikmeter sei wissenschaftlich nicht zu begründen, finden die Mediziner um den Lungenarzt Dieter Köhler. Dem widerspricht die Deutsche Pneumologische Gesellschaft (DPG), der Köhler selbst einmal als Präsident vorstand. Die größte Vereinigung von Lungenärzten hierzulande hatte erst im Dezember ein Positionspapier vorgelegt, in dem die Autoren sogar laut über noch strengere Werte nachdenken.
Dass Stickoxide oder Feinstaub der Gesundheit nicht zuträglich sind, ist unbestritten. Die Frage ist aber, ab welchen Konzentrationen relevante Effekte auftreten und wie stark diese sind. In diesem Zusammenhang werden oft horrende Zahlen genannt. So kommen Umweltmediziner in einer Studie für das Umweltbundesamt zu dem Ergebnis, dass 2014 allein durch die Stickoxid-Hintergrundbelastung hierzulande rund 6000 Menschen vorzeitig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben sind. Pro 100 000 Einwohner seien dadurch rund 88 Lebensjahre verloren gegangen. Pro Einwohner entspricht das einer Lebensverkürzung von knapp acht Stunden – im Durchschnitt. Es kann also sein, dass Personen, die tatsächlich erkranken, weit mehr Lebenszeit verlieren.
Man kann daraus ableiten, dass Stickstoffdioxid in den bei uns üblichen Konzentrationen vermutlich nicht zu den größten Gesundheitsrisiken gehört. Das erklärt ein Stück weit auch den aktuellen Expertenstreit. Vergleichsweise kleine Effekte lassen sich naturgemäß nicht so leicht nachweisen wie größere, die quasi unübersehbar sind – wie etwa die Folgen des Rauchens. Die Teilnehmer epidemiologischer Studien, mit denen die Effekte von Schadstoffen häufig geschätzt werden, sind auch vielen anderen Einflüssen ausgesetzt. So atmen Anwohner großer Straßen nicht nur mehr Stickoxide ein, sondern sind womöglich auch höheren Feinstaubkonzentrationen oder stärkerem Verkehrslärm ausgesetzt. Auch Unterschiede im Lebensstil oder in der sozialen Schichtung der Teilnehmer können die Ergebnisse verfälschen.
Umweltmediziner versuchen zwar, mit komplizierten statistischen Methoden den Einfluss solcher Störgrößen herauszurechnen. Sie räumen aber gleichzeitig ein, dass es sich bei ihren Angaben zu den gesundheitlichen Effekten um Schätzungen mit einer relativ großen Bandbreite handelt. Für die genannten 6000 vorzeitigen Todesfälle durch Stickstoffdioxid bedeutet das zum Beispiel, dass der tatsächliche Wert zwischen rund 2000 und knapp 10 000 liegen kann. Solche Unsicherheiten bleiben in der öffentlichen Debatte oft außen vor. Genauso wenig wie es möglich ist, einzelne Krankheits- und Todesfälle der Stickstoffdioxid-Belastung zuzuschreiben, lässt sich allerdings anhand der vorliegenden Daten behaupten, dass es keinen einzigen Toten gibt, „der kausal auf Feinstaub oder NO2zurückzuführen wäre“, wie es Köhler und seine Mitstreiter postulieren.
Die DGP hat mittlerweile auf Köhlers „Stellungnahme“ reagiert, die von 113 seiner Fachkollegen unterzeichnet wurde. „Die DGP, der Verband der pneumologischen Kliniken (VPK) und die Deutsche Lungenstiftung betrachten die Veröffentlichung der Stellungnahme inklusive der Unterschriftenliste als Anstoß für notwendige Forschungsaktivitäten und eine kritische Überprüfung der Auswirkungen von Stickoxiden und Feinstaub“, heißt es dort.
Aber letztlich lässt sich auch mit noch so aufwendiger Forschung nicht der exakt „richtige“ Grenzwert ermitteln. Deshalb ist es wichtig, einen ausreichend großen Sicherheitspuffer zu schaffen, um auch besonders anfällige Gruppen wie Kleinkinder, Asthmatiker oder Senioren zu schützen. Zudem beruhen Grenzwerte in der Regel nicht nur auf wissenschaftlichen Grundlagen. Auch technische Möglichkeiten und politische Zielsetzungen spielen eine wichtige Rolle. Der EU-Grenzwert mag im internationalen Vergleich recht ambitioniert sein, aber die aktuelle Entwicklung der Messwerte zeigt, dass er auch in der Realität erreicht werden kann.
Vergleichsweise kleine Effekte lassen sich nicht so leicht nachweisen wie größere, die quasi unübersehbar sind