Mitarbeiter der deutschen Hilfsorganisation Cadus helfen, Kinder aus dem Gazastreifen zu retten – auch in dem Wissen, dass sie selbst möglicherweise nicht mehr nach Hause zurückkehren. Wir sprachen mit einem von ihnen über seine schwierige Mission.
Palästinensische Kinder stehen vor einem zerstörten Gebäude in Chan Junis: Ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Cadus berichtet über seine Erfahrungen in Gaza (Symbolfoto).
Von Gülay Alparslan
„Ich glaube nicht, dass das Ausmaß des menschlichen Leids in Gaza in den Mainstream-Medien angemessen dargestellt wird. Aber ich finde es wichtig, darauf aufmerksam zu machen. Denn die meisten Betroffenen sind Familien und Kinder“, sagt Markus W. Seinen richtigen Namen möchte der ehrenamtliche Mitarbeiter der deutschen Hilfsorganisation Cadus in dem Artikel nicht genannt haben. „Das könnte zur Folge haben, dass mir die Einreise nach Gaza zu einem späteren Zeitpunkt verweigert wird“, begründet er seinen Wunsch. Die Israelis überprüften den Hintergrund jedes Einzelnen genau, bevor sie eine Einreisegenehmigung erteilten - auch anhand dessen, was sie im Internet und auf Social Media über die Person finden.
Im März 2024 trifft das Team um Markus W. in Gaza ein, um den sechsjährigen Fadi al-Zant, der an Mukoviszidose leidet, vom Norden Gazas in den Süden zu bringen. Ein Beitrag über den Sechsjährigen, der damals in den Sozialen Netzwerken verbreitet wird, löst bei vielen Menschen Bestürzung aus.
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Für Markus W. ist es der erste Einsatz im Gazastreifen
Wie viel Fadi damals gewogen haben muss, kann Markus W. nicht genau sagen, aber er weiß: „Deutlich weniger, als ein gesundes Kind wiegen sollte. Er hatte kein Körperfett, seine Muskeln waren verkümmert. Er konnte nicht alleine sitzen, geschweige denn stehen.“
Die erste Etappe von Fadis Reise: Das Cadus-Team bringt ihn vom Kamal Adwan Krankenhaus im Norden des Gazastreifens in den Süden. Danach soll der Sechsjährige außer Landes gebracht werden, damit er die nötige medizinische Versorgung erhält. Für Markus W. ist es zu diesem Zeitpunkt sein erster Einsatz in Gaza und nach eigener Aussage eine ziemlich schockierende Erfahrung. Das Gebiet ist damals besonders stark vom Konflikt betroffen. „Die Umgebung des Krankenhauses war völlig zerstört. Es gab kaum ein Gebäude, das nicht schwer beschädigt oder komplett eingestürzt war“, erinnert sich Markus W.
Die Hilfsorganisation Cadus bereitet ihre Mitarbeiter im Vorfeld durch Schulungen auf den Einsatz vor. „Wir haben mit dem Team, mit dem wir nach Gaza gehen wollten, ein Training in Berlin absolviert“, erzählt Markus W. Dort gab es Vorträge und Simulationen zur Sensibilisierung, um sich auf ein möglicherweise feindseliges Umfeld vorzubereiten, auf das man in einem Konfliktgebiet treffen könne. „In der Theorie war es nützlich und auch schön, ein gewisses Maß an Vorbereitung zu haben“, sagt er. „ Aber ich glaube nicht, dass es möglich ist, sich auf einen Ort wie Gaza vorzubereiten. So etwas habe ich noch nie erlebt.“
Nichts kann einen auf Gaza vorbereiten
Zusätzlich schaut sich Markus W. vor seiner Abreise Videos und Bilder aus Gaza an, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was ihn dort erwarten, was er sehen und hören wird. Doch vor Ort stellte er fest, dass ihn nichts auf die Realität vorbereiten konnte: „Überall, wo man hinkommt, gibt es Orte oder Geräusche oder irgendetwas, das mit dem Konflikt zu tun hat“, erzählt Markus W. „Ob es sich nun um vertriebene Menschen oder zerstörte Gebäude handelt, um Geräusche von Schießereien, Bomben oder Granaten – man kann sich dem nicht entziehen. Es ist überall“.
Am Tag, als die Mitarbeiter der Hilfsorganisation Fadi abholen, ist der Ort überfüllt, erinnert sich Markus W. Überall sind Menschen, die entweder Schutz oder medizinische Hilfe suchen. Fadi ist zu diesem Zeitpunkt stark unterernährt. „Es war ziemlich schockierend. Unsere beiden Patienten - wir mussten an diesem Tag zwei abholen - waren beide kurz davor, an Unterernährung zu sterben“, sagt Markus W. Beide hätten auch andere medizinische Probleme gehabt. „Sie waren so schwach. Das hat mich an diesem Tag vielleicht am meisten berührt.“
Erschwert wird die Arbeit der Hilfsorganisation durch die Kontrollen der israelischen Armee (IDF). „Wir mussten einen Militärkontrollpunkt der IDF passieren, um in das Gebiet zu gelangen, in dem Fadi und die anderen Kinder waren“, sagt der humanitäre Helfer. Wegen des Checkpoints sei es schwierig gewesen, die Menschen aus Nord-Gaza herauszubringen.
Einsätze in Gaza häufig mit großen Gefahren verbunden
Die Überquerung des Checkpoints müsse vorab genehmigt und geplant werden. Die IDF verlange dabei die Informationen und Ausweise von jeder einzelnen Person, die die Grenze überqueren will – danach werde man noch einmal kontrolliert, wenn man die Grenze passiert und noch einmal, wenn man zurückgeht. „Manchmal mussten wir stundenlang warten, und manchmal durften wir überhaupt nicht rüber, selbst wenn es vorab genehmigt wurde“, so Markus W. Das Verhalten der Soldaten ihm und seinem Team gegenüber variierte laut dem Helfer je nach Tag von gleichgültig bis feindselig.
Angst vor dem Einsatz hatte er anfangs nicht. „Aber je näher der Tag rückte, desto mehr wurde mir bewusst, was auf mich zukommt. Eine gewisse Angst machte sich dann doch breit.“
Dass die Einsätze für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen häufig mit großen Gefahren verbunden sind, zeigt das Beispiel der Organisation World Central Kitchen. Am 1. April 2024 wurden sieben ihrer Mitarbeiter bei einem israelischen Luftangriff getötet. Am 23. März dieses Jahres tötete die israelische Armee im südlichen Gazastreifen 15 Mitarbeiter des Roten Halbmonds, der UN und des palästinensischen Zivilschutzes. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen verscharrte die Armee die Toten anschließend mit Bulldozern mitsamt ihren Fahrzeugen in einem Massengrab.
Gaza-Konflikt hinterlässt Spuren
Die israelische Armee behauptete zunächst, es habe sich bei den Getöteten um Hamas-Kämpfer gehandelt, die in nicht gekennzeichneten Fahrzeugen ohne Beleuchtung unterwegs gewesen seien. Die UN widersprach dieser Darstellung.
Später aufgetauchte Videoaufnahmen und Zeugenaussagen widerlegten diese Darstellung. Aufnahmen, die auf dem Handy eines der getöteten Sanitäter gefunden wurden, zeigten eindeutig gekennzeichnete Fahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht, die unter Beschuss geraten. Die israelische Armee räumte daraufhin ein, dass ihre ursprüngliche Darstellung möglicherweise falsch war.
Augenzeugen berichteten zudem, dass einige der 15 getöteten Helfer in einem Massengrab in Rafah mit gefesselten Händen und Schusswunden an Kopf und Oberkörper aufgefunden wurden – was auf gezielte Exekutionen hindeute.
Fadi geht es heute körperlich besser
Nach der Rettung von Fadi war Markus W. Ende 2024 ein weiteres Mal in Gaza. Ob er in Zukunft noch einmal für einen Einsatz dorthin reisen wird, weiß er noch nicht. Denn „natürlich gehen die Eindrücke vor Ort nicht spurlos an einem vorbei“, sagt er und ergänzt: „Ich glaube, es bleibt an einem haften, egal was passiert“. Markus W. arbeitet nun daran, das Erlebte zu verarbeiten. Unterstützt wird er dabei vom Cadus-Team, das ihm hilft, über seine Erfahrungen zu sprechen, sie zu verstehen und zu verarbeiten. Außerdem geben ihm seine Familie und seine Freunde sowie andere medizinische Fachkräfte Halt.
Den kleinen Fadi hat er seit dem Einsatz nicht mehr persönlich gesehen. Aber er hat von Leuten, mit denen er zusammengearbeitet hat, von dem Jungen gehört und auch einige Videos von ihm gesehen. „Er sieht jetzt sehr gesund aus - viel gesünder als vorher und es scheint ihm medizinisch gut zu gehen“.