Was geschah am . . . 30. April 1573?

Kathedrale von Beauvais: Der Turm zu Babel des Mittelalters stürzt ein

In der Picardie, rund 70 Kilometer nördlich von Paris, haben sie die gotische Kathedralbaukunst auf die Spitze getrieben. Über die Spitze hinaus, muss man eigentlich sagen. Denn die Kirche ist ein riesiger Torso geblieben.

Kathedrale von Beauvais: Der Turm zu Babel des Mittelalters stürzt ein

Die Cathédrale Saint-Pierre de Beauvaisist Bischofskirche für das Bistum Beauvais. Sie zählt zu den bedeutendsten Kirchenbauten der Gotik in Frankreich und ist das ehrgeizigste Kathedralprojekt des Mittelalters

Von Markus Brauer/KNA

30. April 1573: Der zu jener Zeit mit 150 Meter  Höhe größte Kirchturm Europas stürzt ein und beschädigt dabei Chor und Querschiff der Kathedrale von Beauvais erheblich. Der weitere Kirchenbau bleibt daraufhin aus Geldmangel unvollendet.

Die Pläne waren buchstäblich hochfliegend. Bischof Milon de Nanteuil wollte im nordfranzösischen Beauvais die größte Kathedrale der Welt bauen lassen. Größer vor allem als jene der Nachbarn Amiens und Rouen.Von diesem Plan ließen sie in Beauvais nicht mehr ab. Gotisches Bauen wurde in jenen Jahren mehr und mehr zur Gier nach dem absoluten Maximum. 

Hoch,Höher, Beauvais

1225, vor 800 Jahren, wurde der Grundstein gelegt. Am Donnerstag (6. Februar) wird nun mit einem literarischen Mittelalter-Forum das große Festjahr in der 56.000-Einwohner-Stadt eingeläutet.

Die gotische Architektur zielt auf absolute Transparenz. Von Licht durchflutet soll der Raum sein, den Blick und die Gedanken emporziehen, die Wände geradezu auflösen. Für die komplizierte Statik, die es dafür braucht, müssen Außenstreben sorgen, um die enormen Auflasten des Gewölbes seitlich abzuleiten.

Baumeister überschätzten ihren Genius

Doch in Beauvais reichte die Stabilität nicht. Die Baumeister hatten ihren Genius überschätzt. In der verhängnisvollen Nacht des 29. November 1284 riss ein furchtbarer Knall die Bürger aus dem Schlaf. Teile des atemberaubenden Chorgewölbes stürzten ein.

Der statisch verbesserte Wiederaufbau dauerte länger als der eigentliche Bau zuvor. Danach sorgte der Hundertjährige Krieg (1337-1453) für eine Pause von eineinhalb Jahrhunderten. Doch am Ende haben sie es doch geschafft. 1569 war die Kathedrale von Beauvais mit 153 Metern Höhe das höchste Gebäude der Welt.

Letztes Mal zu vermessener Höchstleistung

Die Zeit der gotischen Kathedralen war da eigentlich längst vorbei. Die von Orleans war 1568 in den Religionskriegen von Hugenotten gesprengt worden. Doch in Beauvais rafften sie sich noch ein letztes Mal zu einer vermessenen Höchstleistung auf.

Nachdem sie das Chorgewölbe bis zur unfassbaren Höhe von 48 Metern getrieben und das Querschiff mit seinen Portalen angefügt hatten, setzten sie – als geplante Zwischenstation zum Weiterbau – einen riesigen Vierungsturm auf.

Zu kühne Statik

Dass das ohne ein stützendes Langhaus statisch äußerst kühn war, muss den Erbauern klar gewesen sein. Immerhin wählten sie aus einem Entwurf komplett aus Stein und einem mit steinernem Unterbau und Aufbau aus Holz die leichtere Variante aus. 1569 war der Turm fertiggestellt – mit 153 Metern höher als jedes Gebäude auf der Welt.

Hatten sich die die Baumeister von Beauvais tatsächlich über die Gesetze der Statik hinwegsetzen können? Schon einmal war es ja schiefgegangen. Das sollte diesmal nicht passieren.

Doch die Winde, die vom Meer über die Ebene rollten, zerrten an der gewagten Konstruktion. Und obwohl noch wenige Wochen zuvor eine zusätzliche Stützkonstruktion für den Vierungsturm fertiggestellt worden war, geschah, was geschehen musste: Das Wunder von Beauvais währte nur wenige Sommer.

An Christi Himmelfahrt 1573, die Gemeinde hatte die Kirche soeben in Prozession verlassen, gaben zwei der Stützpfeiler nach. Der Holzturm bretterte buchstäblich auf Chorgewölbe und Querhaus hinunter. Die einstürzenden Gewölbe und die Glocken zermalmten den gerade vollendeten Lettner.

Gotik neben karolingische Vorgängerbau

Die Beseitigung der Schäden fraß bis 1578 sämtliche Mittel auf, die eigentlich zum Weiterbau am Langhaus hätten verwandt werden sollen. So wirkt der heutige Torso wie ein mittelalterlicher Turmbau zu Babel: Chor und Querhaus, multipel verankert und gesichert gegen eine dritte Katastrophe, stehen für das Maximum, as die gotische Kathedrale rein statisch erreichen konnte.

Und statt des Langhauses und der Westtürme hockt dort demütig und scheinbar winzig bis heute der karolingische Vorgängerbau aus dem 10. Jahrhundert, in dem noch Steine aus der Römerzeit verbaut sind. Auch dieses vermeintlich hutzelige Häuschen ist ein Gotteshaus. Auch hier wurde über Jahrhunderte die Messe gefeiert, während nebenan das größte Gebäude der Welt entstand.

Und so kann die Stadt Beauvais 2025 ein 800-jähriges Bestehen seiner Bischofskirche feiern. Den Auftakt macht das traditionelle Winter-Lichterfest (Festival Lumières d’hiver) in der Mediathek der Stadt. Dort wird es um Literatur des Mittelalters und über das Mittelalter gehen. Im Frühjahr und Sommer dann wird das Bauwerk selbst in den Vordergrund rücken.