Mit Liegestühlen und einem eigenen Jubiläumslogo will sich das Kreisjugendamt auf Festen und Veranstaltungen präsentieren: (von links) die stellvertretende Leiterin Birte Brinkmann, Amtsleiter Holger Gläss und der ehemalige Chef Peter Wieland.Foto: Kornelius Fritz
Von Kornelius Fritz
Rems-Murr. Wenn vom Jugendamt die Rede ist, denken viele zuerst an die „Frau vom Amt“, die an der Haustür klingelt, um überforderten Eltern ihre Kinder wegzunehmen. In extremen Fällen kommt das auch tatsächlich vor, doch das Aufgabenfeld ist viel größer. „Der Kinderschutz ist zwar eine unserer wichtigsten Aufgaben; uns nur darauf zu reduzieren, wäre jedoch fatal“, sagt Holger Gläss, der seit 2017 das Jugendamt des Rems-Murr-Kreises leitet. Tatsächlich kümmert sich seine Behörde nämlich um mehr als 20 Aufgabenfelder, von der Drogenberatung bis zur Rechtsextremismusprävention. Und es kommen ständig neue hinzu, zuletzt etwa die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge.
Ihre Wurzeln haben die Jugendämter in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Das württembergische Jugendamtsgesetz von 1919 schrieb die Einrichtung solcher Ämtern in ganz Württemberg vor. Diese sollten die Arbeit der freien Träger koordinieren und geeignete Vormünder und Pflegefamilien finden, die nach dem Krieg dringend gebraucht wurden. Alte Dokumente belegen, dass diese Vorgabe in Backnang und Marbach bereits 1920 umgesetzt wurde. Gefeiert wird das runde Jubiläum wegen der Coronapandemie allerdings erst jetzt.
Um die nötigen Mittel musste der Amtsleiter lange kämpfen
Das Menschenbild, das der Jugendhilfe zugrunde liegt, hat sich seit den Anfangsjahren gründlich verändert. Noch bis in die 70er-Jahre herrschte laut Holger Gläss die Einstellung: „Armen Kindern muss man helfen, jugendliche Störenfriede muss man disziplinieren“. Eine Haltung, die letztlich auch die schrecklichen Missstände in vielen Kinder- und Jugendheimen der Nachkriegszeit ermöglichte. Selbst in den 80er-Jahren sahen die Jugendämter ihre Hauptaufgabe noch darin, Familien zu kontrollieren und wenn nötig einzugreifen.
Eine neue Ära begann erst im Jahr 1991, als das Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft trat. Die Jugendämter wurden verpflichtet, ihre Hilfsangebote systematisch zu planen. Aus Bittstellern wurden nun Leistungsberechtigte, aus „wohlmeinender Bevormundung“ ein Dialog auf Augenhöhe. Innerhalb der Kreisverwaltung habe sich das Jugendamt seine Position aber erst einmal erkämpfen müssen, erinnert sich Peter Wieland, der die Behörde mit Sitz in Waiblingen von 1990 bis 2013 geleitet hat. Vorgesetzte und Kollegen aus anderen Bereichen hätten die Jugendhilfe noch lange als „Freiwilligkeitsleistung“ bezeichnet und versucht, den Rotstift anzusetzen.
Anfangs wurde das Kreisjugendamt nicht ernst genommen
Auch im Kreistag hatte das Thema zunächst wenig Renommee: Der zuständige Jugendhilfeausschuss sei früher vor allem mit Kreisräten aus der zweiten und dritten Reihe besetzt worden, erinnert sich Wieland. „Man hat uns am Anfang nicht richtig ernst genommen.“ Das hat sich grundlegend geändert: Inzwischen haben wohl fast alle Kreisräte die Bedeutung der Jugendhilfe, insbesondere auch der Präventionsarbeit, erkannt. Und sie sind auch bereit, die Behörde mit den entsprechenden Mitteln auszustatten.
Als Peter Wieland 1990 nach Waiblingen kam, hatte das Jugendamt 80 Mitarbeiter, heute sind es 315. Der Etat hat sich in dieser Zeit sogar fast verzehnfacht – von 4,6 auf über 40 Millionen Euro pro Jahr. Holger Gläss bezeichnet sein Amt heute als „Zentrale für gelingendes Aufwachsen“. Das Jugendamt kümmere sich nämlich keineswegs nur um Problemfälle, sondern erreiche mit seinen vielfältigen Angeboten inzwischen fast alle Familien im Landkreis.
Jugendamt präsentiert sich bei Festen und Veranstaltungen
Noch sei man aber nicht am Ziel. „Wir wollen noch stärker vor Ort gehen“, sagt Holger Gläss. Dafür wurde der Rems-Murr-Kreis in 15 „Sozialräume“ unterteilt. Teams aus dem Amt treffen sich regelmäßig vor Ort mit Vertretern von Gemeinden, Schulen und freien Trägern, um Probleme in den jeweiligen Orten frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren. „So bekommen wir ein noch flexibleres System an passgenauen Hilfen“ erklärt Gläss.
Präsenz zeigen will das Jugendamt in den kommenden Wochen auch bei vielen Veranstaltungen im Landkreis, etwa dieses Wochenende auf dem Murrhardter Stadtfest. Dort werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre blau-weißen Liegestühle aufstellen und versuchen, mit Familien und jungen Leuten ins Gespräch zu kommen. „Wir wollen Gesicht zeigen und klar machen: Wir sind für Euch da“, sagt die stellvertretende Amtsleiterin Birte Brinkmann.
Gebremst wurden diese Bemühungen zuletzt allerdings immer wieder vom Personalmangel. Die Fluktuation in dem Amt mit einem Frauenanteil von 85 Prozent sei hoch und qualifiziertes Personal immer schwieriger zu finden, sagt Holger Gläss. „Das aufzufangen wird eine unserer wichtigsten Aufgaben in den nächsten Jahren sein.“
Todesfall Seine wohl dunkelste Stunde erlebte das Kreisjugendamt 1997. In einer Pflegefamilie in Weinstadt-Beutelsbach starb der damals fünfjährige Alexander: Der Junge war verhungert. Zwei weitere völlig unterernährte Pflegekinder überlebten.
Konsequenzen Die Pflegeeltern wurden wegen Mordes zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, doch auch der Rems-Murr-Kreis musste vor Gericht. Wegen Verletzung der Amtspflicht verurteilte der Bundesgerichtshof den Kreis zur Zahlung von 25000 Euro Schmerzensgeld an den Überlebenden, der geklagt hatte, sowie zum Ausgleich sämtlicher materieller Schäden.