Kunsttherapeutin Nadja Schmidt und Sozialarbeiter Jürgen Lutz, der sich in der Theatertherapie bestens auskennt, arbeiten im Klinikum Winnenden mit Kindern, die eine kranke Seele haben und deren Körper darunter leidet. Eine Welt der kleinen Erfolge, aber auch der Zusammenbrüche.
Auf dem Papier entsteht eine Welt: Kunsttherapie für junge Patientinnen und Patienten der Psychosomatik in der Kinderklinik. Fotos: Palmizi
Von Pia Eckstein
WINNENDEN. Kein Gequassel, kein Gekicher, Geraschel, Gekruschtel. In diesem kleinen Raum hat die Konzentration ein Zuhause gefunden. Alle vier jungen Patientinnen und Patienten sind in sie eingehüllt wie in einen Schutzschirm. Zu hören ist nur leises Schaben von Bleistift auf Papier. Drei Mädchen und ein Junge lassen ihre Fantasiewelt entstehen. Beim Bub mit dem schwarzen Haar wuchern Baumkronen. Sie nehmen das große Blatt ein, dicht, mächtig, in wilden Schlingen. Und gleichzeitig liegt da ein Lineal bei ihm. Ein Maßstab steht auf dem Blatt. Ein säuberlich konstruiertes riesiges Treppenhaus würde einem Architekten alle Ehre machen. Das Treppenhaus gehört zu einem Edeka. Der steht als Baumhaus in der Baumkrone. Alle anderen Bäume tragen auch Baumhäuser. Kleine und ein einziges ganz großes. In dem wohnt er selbst. Sehen kann man ihn da drin allerdings nicht. Noch nicht. Vielleicht zeichnet er sich ja noch rein, vielleicht hinter eines der großen Fenster.
Die Kinder haben eine kranke Seele. Darunter leidet auch der Körper. Alle vier, die hier zusammen mit Kunsttherapeutin Nadja Schmidt schaffen, leben viele Tage, Wochen im zweiten Stock des Klinikums. Sie haben eine kranke Seele und darunter leidet auch ihr Körper. Die jungen Patientinnen und Patienten, die über oftmals 80, manchmal sogar 100 und mehr Tage eines der sechs Betten der Psychosomatik belegen, sind magersüchtig oder haben eine Depression, verweigern die Schule, leiden unter Bauchschmerzen oder Kopfweh, für das organisch keine Ursache zu finden ist.
Hier werden sie erst mal körperlich fit gemacht, lernen, wieder richtig zu essen, die Schmerzen, die Angst, die Wut zum Beispiel mit Atemtechniken zu beherrschen. Sie lernen, Druck auszuhalten oder bestenfalls gar nicht mehr aufkommen zu lassen. Denn diese Kinder und Jugendlichen erleben einen unvorstellbaren Druck. Und zwar, sagt Jürgen Lutz, der für die Theatertherapie zuständig ist, schon in der Grundschule. Lutz weiß wirklich, wovon er redet. Er ist hauptberuflich Schulsozialarbeiter in Hohenacker, Bittenfeld und Hegnach. Sein Klinik-Spiel mit ernstem Hintergrund ist noch ganz neu im Krankenhaus. Doch wie erleichternd für viele: Hier können sie Kopf und Kontrolle ausschalten. Schlüpfen in eine andere Rolle, erleben, wie man agieren könnte, wenn man das so wollte. Märchenfiguren eignen sich gut. Die Frage kann lauten: Welche Rolle möchtest du spielen? Magst du Schneewittchen sein? Und das, was Schneewittchen dann im Spiel macht, kann ein Kind vielleicht wieder mit in sein eigenes Leben nehmen. Und natürlich auch die Begeisterung der anderen, den Applaus, das Gemeinschaftsgefühl, die Sicherheit, dass ja doch mal was klappt im Leben. Wenn Tränen kullern, ist das gut für die Therapie. In der Kunsttherapie kullern plötzlich Tränen. Ganz leise schluchzt das Mädchen mit dem blonden Zopf. Gerade eben hat sie noch an ihrer Burg gezeichnet, die sie ganz rechts oben im Eck des großen Blatts bis ins Detail ausarbeitet. Türme, Mauern, Gras und Weg – ganz fein, ganz klein. Und jetzt? „Magst du rausgehen?“, fragt Nadja Schmidt. Das Mädchen nickt.
Kleine Zusammenbrüche wie dieser seien, sagt Nadja Schmidt, in der Therapie sehr wertvoll. Genauso wie der Blick aufs Bild und seine Entstehung. Wie werden Gefühle im Bild ausgedrückt? Malen die Kinder und Jugendlichen spontan? Oder durchdenken sie alles? Reduzieren sie? Fitzeln sie sich durch kleinste Details? Lebt im Bild jemand? Als das Mädchen wieder zurückkommt, schimmert in den Mundwinkeln verstohlen ein Lächeln. Leise setzt es sich wieder vor sein Blatt, nimmt den Bleistift und zeichnet links unten im Eck ein Wohnhaus mit vielen runden Dachziegeln. Der Kopf liegt tief auf die Hand gestützt, die aus der Frisur gefallenen Haare breiten sich aus wie ein Schleier.
Theatertherapeut Jürgen Lutz und Kunsttherapeutin Nadja Schmidt.