Die Haltung Deutschlands gegenüber Russland hätte sich nach der Annexion der Krim ändern müssen, so Ricarda Lang. Foto: Alexander Becher
Von Matthias Nothstein
Backnang. Brückentage sind beliebt, um einmal dem Alltag zu entfliehen. Diese Chance hat auch Ricarda Lang genutzt, wenngleich auf ganz andere Weise. Die Bundesvorsitzende der Grünen hat dieser Tage nämlich von Berlin aus keine Fahrt ins Grüne gemacht, sondern einen ihrer seltenen Abstecher in ihren Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd. Dort hat sie nicht nur das Gespräch mit den örtlichen (Ober-)Bürgermeistern und Unternehmern gesucht, sondern sie hat auch bei einem Abstecher zur Lokalzeitung zu vielfältigen Themen Stellung bezogen.
Neun-Euro-Ticket
Die 28-Jährige zeigt sich begeistert vom Neun-Euro-Ticket. Sie selbst ist ohnehin viel mit der Bahn unterwegs und besitzt eine Netzkarte. Zudem darf sie wie alle Bundestagsabgeordneten in Berlin den Fahrdienst nutzen. Hätte sie jedoch ihre Netzkarte nicht, „dann würde ich mir das Neun-Euro-Ticket auf jeden Fall zulegen. Es entlastet nicht nur das Klima, sondern vor allem die Menschen finanziell.“ Sie glaubt an den Erfolg dieses Tickets, da für viele Bürger tägliche Fahrtkosten wegfallen und neue Reisemöglichkeiten offenstehen. Für Lang geht es auch darum, zu erfahren, wie das Angebot angenommen wird. Denn ihre langfristige Vision ist, den ÖPNV kostenlos anzubieten: „Mobilität darf nicht vom Geldbeutel abhängen.“ Dass das aktuelle Ticket nicht bereits für die drei Monate kostenfrei angeboten wurde, habe einen besonderen Grund. So könne die Regierung nachvollziehen, wie groß die Resonanz ist. Der Weg zum kostenfreien ÖPNV sei allerdings noch weit. Zuvor müsse der Ausbau der Strecken geschultert werden. Denn es wäre sehr ungünstig, wenn zuerst viele Leute das Angebot annehmen, aber die Züge überfüllt oder verspätet seien und die Akzeptanz sinke.
Bürokratie
Ausbau und Finanzierung vieler Bereiche sind das eine, die Genehmigungsverfahren das andere. Hier ist Lang eindeutig: „Wir müssen schneller werden: weniger Bürokratie und schnellere Verfahren.“ Egal, ob beim ÖPNV oder bei erneuerbaren Energien, Lang drückt aufs Tempo und hat bereits analysiert: „Es gibt manchmal eine gewisse Risikoaversion. Das ist zunächst gut, wir sind den Bürgerinnen und Bürgern ja schuldig, alles genau zu prüfen. Wer aber immer nur komplett auf Nummer sicher geht und zehn Jahre durchprüft, bevor der erste Schritt gegangen wird, agiert zu langsam.“ Lang nennt es ihr großes Ziel, auf diesem Gebiet etwas zu verändern, gerade bei den erneuerbaren Energien. „Wir haben großen Veränderungsdruck und in der Gesellschaft eine große Bereitschaft, hier mitzugehen. Das dürfen wir nicht verspielen, indem wir bei jedem Windrad etliche Jahre für die Genehmigung brauchen.“ Gleiches gilt für den Denkmalschutz. So klagte ein Bürgermeister, dass Dächer von geeigneten Gebäuden nicht für Fotovoltaikanlagen genutzt werden können, obwohl die Installationen überschaubar wären, Lang spricht von „minimalinvasiven Anlagen“. Sie sagt: „Denkmalschutz ist von großer Bedeutung für unsere Kommunen und für die Menschen, die dort leben. Ich bin froh, dass wir ihn haben und schützenswerte Gebäude, ganze Stadtbilder erhalten bleiben. Gleichzeitig finde ich es richtig, immer wieder im Einzelfall zu prüfen, wie sich Denkmalpflege und Energiewende vereinbaren lassen.“
Wahlkreis
Nach ihrer Wahl zur Bundesvorsitzenden hatte Lang erklärt, ihren Wahlkreis nicht zu vernachlässigen. Seither ist sie alle zwei Monate vor Ort, dann immer für mehrere Tage, in denen sie versucht, viele Treffen unterzubringen. Gefragt nach dem wichtigsten lokalen Thema erklärt sie: „Dass wir es hinbekommen, den Ausbau der Murrbahn in den aktuellen Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen.“ Sie erinnert an die Forderung, mehr Geld in die Schiene zu investieren. Aktuell seien für die Murrbahn nur wenige Änderungen enthalten, „kosmetische Eingriffe“ nennt sie es. Die Abgeordnete nennt als weiteres Beispiel ihres Einsatzes das Sirenenprogramm, das von vielen Kommunen „supergut angenommen wurde“, aber mit viel zu geringen Mitteln ausgestattet wurde. Die Rückmeldungen, die sie vor Ort von den Bürgermeistern erhalten hat, will sie in die Bundestagsfraktion tragen. Tenor: „Wir müssen solche Programme in den Haushaltsverhandlungen noch stärker berücksichtigen.“ Bevor es weitergeht zum Kirchentag nach Stuttgart, besucht Lang einen örtlichen Heizungsbauer. Auch dort kommen die Lieblingsthemen zur Sprache: Ausbau der regenerativen Energien, Wärmepumpen, Effizienzsteigerung, „alles Themen, die wir uns in der Regierung vorgenommen haben. Aber es fehlen die Fachkräfte. Das wird am Ende eine der größten Herausforderungen.“
Ausbildung
Der Kampf gegen den Fachkräftemangel ist eines der Hauptthemen der 28-Jährigen. Sie spart nicht an Kritik: „In meiner Generation herrscht das Gefühl vor, studieren ist das Nonplusultra. Dabei sehen wir doch tagtäglich, wie unverzichtbar Berufszweige wie das Handwerk oder die Pflege sind. Wir müssen deshalb die Rahmenbedingungen verbessern, die Ausbildung wieder attraktiver machen und dafür sorgen, dass Ausbildungsberufe die Aufwertung in unserer Gesellschaft erhalten, die sie verdienen.“
Atomausstieg
Vehement spricht sich Lang gegen längere Laufzeiten der Kernkraftwerke aus, obwohl oder gerade weil mit Neckarwestheim einer der letzten Reaktoren in Sichtweite des Wahlkreises arbeitet. Die Bürger hätten sich auch vor Ort auf das Ende dieser Kraftwerke eingestellt. Zudem sei dies auch kein blindes Festhalten an dem einstigen Gründungsthema der Grünen Sie verweist auf das gemeinsame Gutachten des Wirtschafts- und Umweltministeriums: „Robert Habeck und Steffi Lemke haben eine mögliche Laufzeitenverlängerung der drei noch bestehenden Atomkraftwerke gründlich geprüft. Ergebnis: Es lohnt sich nicht. Die zusätzlichen Strommengen wären gering, die Sicherheitsrisiken umso größer. Ein Weiterbetrieb rechnet sich weder ökonomisch noch energie- oder sicherheitspolitisch.“ Das umfassende Prüfungsverfahren ist für Lang kein Widerspruch zu ihrer generellen Forderung, Genehmigungen müssten schneller gehen. „Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie, da ist besondere Sorgfalt geboten.“ Insofern sei die Genehmigung nicht zu vergleichen mit beispielsweise dem Naturschutzgutachten eines Windrads. „Die Menschen erwarten zu Recht von uns, dass wir bei der nuklearen Sicherheit keine Abstriche machen.“ Aber trotz des Ausstiegs sei die Netzsicherheit gewährleistet, daran arbeite die Regierung mit Hochdruck.
Abhängigkeit
Die Abhängigkeit von russischen fossilen Rohstoffen muss laut Lang so schnell wie möglich beendet werden, „auch wenn das kurzfristig Einschnitte für uns bedeutet. Vorherige Regierungen haben uns energiepolitisch maximal von Moskau abhängig gemacht, das kann man nicht schönreden.“ Der schwierigste Teil sei die Beendigung der Gasbezüge. Lang sagte: „Neben dem massiven Ausbau der Erneuerbaren, den wir gerade beschleunigen, bauen wir etwa auch LNG-Terminals. Das ist für uns Grüne kein leichter Schritt.“ Sie warb für ein größeres Engagement auf dem Gebiet der Wasserstofftechnologie, die Deutschland noch viel stärker nutzen könnte, und natürlich für den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, die mittelfristig die sichersten und bezahlbarsten sein werden.
Wandel durch Handel
Dass das Motto „Wandel durch Handel“ nicht richtig war hätte man spätestens mit dem Einmarsch Russlands in Georgien und 2014 mit der Besetzung der Krim erkennen müssen. „Mir geht es nicht darum, die Ostpolitik von Willy Brandt infrage zu stellen. Die hat zur damaligen Zeit einen großen Beitrag zur Friedensordnung auf europäischem Boden geleistet. Man hätte aber früher erkennen müssen, dass diese Friedensordnung auch dann schon von Wladimir Putin angegriffen wurde, als viele ihn noch für einen vertrauensvollen Partner zu halten schienen.“ Zudem sei „Wandel durch Handel“ in den vergangenen Jahren oft auch nur ein Postulat gewesen, „in dem sehr wenig Wandel steckte“. Es sei in Russland schon lange offensichtlich gewesen, dass es keinen Wandel gibt. Trotzdem habe man den Handel weitergetrieben.
China
Nun gelte es, aus dem Russlanddesaster zu lernen. So sagt Lang: „Ich denke da etwa an China. Eine Entkopplung wäre natürlich der falsche Weg, schließlich brauchen wir die Kooperation mit China beim Klimaschutz. Aber wir brauchen eine neue Chinastrategie.“ Sie fordert spürbare Reaktionen auf Menschenrechtsverletzungen. „Wir müssen uns außerdem sehr gut überlegen: In welchen Bereichen drohen wir gerade, uns massiv abhängig zu machen?“ Sie nennt die IT- und Digitaltechnologie. „Wir brauchen mehr Produkte, die hier hergestellt werden, gerade in strategischen Sektoren. Mir geht es nicht um Protektionismus, sondern um die Vermeidung von Abhängigkeiten.“ Der Überfall Russlands auf die Ukraine sei ein Schuss vor den Bug gewesen.