Messerstiche „fernab einer Notwehrsituation“ in Fellbach

Beim Landgerichtsprozess gegen einen 20-Jährigen fordert der Staatsanwalt zwei Jahre und acht Monate Jugendgefängnis.

Messerstiche „fernab einer Notwehrsituation“ in Fellbach

Der Fall wird am Landgericht in Stuttgart behandelt. Symbolfoto: Alexander Becher

Von Heike Rommel

Fellbach. Im Landgerichtsprozess gegen einen 20-Jährigen, der im Außenbereich eines Fellbacher Wohnkomplexes einen 16-Jährigen lebensgefährlich mit dem Messer verletzt hat (wir berichteten), sind die Schlussvorträge gehalten worden. Der Staatsanwalt fordert zwei Jahre und acht Monate Jugendgefängnis, allerdings nicht für versuchten Totschlag, sondern für gefährliche Körperverletzung, weil der Täter vom Opfer abgelassen hat.

Vor den Plädoyers hörte die Jugendkammer den Kinder- und Jugendpsychiater Michael Günter, der den Angeklagten auf dessen Schuldfähigkeit untersucht hat. Voll schuldfähig lautete das Ergebnis. Sogenannte Tranquilizer (Beruhigungstabletten), die der 20-Jährige vor der Tat am 7. Januar eingenommen hatte, um mit dem Tod seines im Dezember verstorbenen Bruders zurechtzukommen, wirkten dem Psychiater nach eher entspannend, als dass sie eine Aggressivität hätten fördern können. Die Pflege des schwerbehindert zur Welt gekommenen Bruders habe schon das ganze Leben des Angeschuldigten geprägt, allerdings nicht so schwer, dass dessen Hausarzt gemeint hätte, er müsse den 20-Jährigen einem Psychiater vorstellen. Ursache für sein aggressives Verhalten war dem Angeklagten zufolge Mobbing. Bis zur neunten Klasse, so auch der Gutachter, habe der Beschuldigte so gut wie keine Freunde gehabt und dann einfach nur zu der Clique des Opfers gehören wollen, die sich regelmäßig auf dem Berliner Platz traf.

Zwei Ausbildungen abgebrochen wegen Schwierigkeiten mit dem Chef und Kollegen, keine Lust auf Wiederholung eines Lehrjahrs, ungelernt im elterlichen Betrieb gelandet und seit sieben Monaten Untersuchungshäftling: So steht der 20-Jährige – zudem Vater eines Kindes, um das er sich aufgrund von Entwicklungsverzögerungen selbst nicht kümmern kann – heute da. Die vier Jahre jüngere Mutter des Kindes ist ebenfalls auf Hilfe angewiesen. Um sie soll es gegangen sein, als der 20-Jährige gegen den 16-Jährigen im Zuge einer Schlägerei das Messer zog und zustach.

Einmal stach er in die Ellbeuge, einmal in die Brust

Für den Staatsanwalt ergab sich nach der Beweisaufnahme ein klares Bild: Der 20-Jährige rief den 16-Jährigen an, um sich mit ihm zu treffen, was dieser aber nicht wollte. Der Anrufer ließ nicht locker und hatte aus der Sicht des Anklägers auch keine Aussprache über eventuelle Handykontakte des 16-Jährigen zu der Mutter seines Kindes vor, sondern wollte diesem schlicht eine Abreibung verpassen. Zur Begrüßung für das Opfer habe es eine Ohrfeige gegeben, worauf der 16-Jährige mit der Faust zurückgeschlagen habe. Daraufhin soll der Täter zweimal mit dem Messer zugestochen haben, einmal in die Ellbeuge und einmal in die Brust. Dass der 16-Jährige die Stichverletzungen überlebt hat, so der Staatsanwalt weiter, sei nur Helfern zu verdanken, denn der Angeklagte habe den Tatort verlassen und daheim auf die Polizei gewartet. Ein Schweizer Taschenmesser, wie behauptet, könne die Tatwaffe nur gewesen sein, wenn dieses in der Jackentasche schon aufgeklappt war. Andernfalls müsse es ein Springmesser gewesen sein. Gefunden wurde die Tatwaffe nicht.

Der Staatsanwalt spielte vom Mordmotiv der Heimtücke über den versuchten Totschlag verschiedene Fälle durch, bis er wegen des Rücktritts vom Versuch eines Tötungsdelikts auf gefährliche Körperverletzung kam. „Er hätte weitermachen können, wenn er gewollt hätte“, lautete die Begründung. Von Gegenwehr, auf die sich der Angeklagte sich berufen hatte, könne aber keine Rede sein, der Fall sei „so etwas von fernab einer Notwehrsituation“.

Der Anwalt des Opfers stellte keinen konkreten Strafantrag. Der Verteidiger des Angeklagten will den 20-Jährigen zum zweiten Mal unter Vorbewährung gestellt sehen: Sein Mandant habe aus der Situation heraus zugestochen und nicht vorgehabt, den 16-Jährigen lebensgefährlich zu verletzen. Dass der 16-Jährige die Entschuldigung des 20-Jährigen nicht angenommen habe, fand er bedauerlich. Der Anwalt des Opfers, an dessen Eltern als Nebenkläger schon 10.000 Euro Schmerzensgeld plus Anwaltskosten geflossen sind, betonte aber: „Die Entschuldigung kam erst, als die Fakten im Gerichtssaal schon auf dem Tisch lagen.“