Immer mehr Top-Tories sind Theresa Mays überdrüssig und wollen sie schnell loswerden. Nur taktische Überlegungen beider Seiten im Brexit-Streit halten die Premierministerin noch im Amt.
London ? Nach dem Protestzug einer Million Menschen durchs Zentrum Londons am Wochenende erwartet Premierministerin Theresa May zu Wochenbeginn ein Aufstand anderer Art. Berichten der „Sunday Times“ zufolge rufen elf ihrer Topminister mittlerweile zur Meuterei auf gegen die Regierungschefin: Auf der für diesen Montag angesetzten Kabinettssitzung wollen sie May offenbar erklären, dass ihre Zeit in No 10 Downing Street abgelaufen ist.
Für die betreffenden Minister hat das Brexit-Chaos ein Ausmaß erreicht, das einen schleunigen Abgang Mays erfordert – vor allem, wenn May mit ihrem Brexit-Deal auch beim dritten Mal scheitert im Parlament. Dass sie das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen diese Woche im Unterhaus erneut zur Abstimmung stellen würde, hatte May ja vorige Woche mit Brüssel vereinbart. Am Sonntag war aber nicht einmal das mehr sicher. Denn auch die Premierministerin befürchtet, dass ihr Deal auf keine Mehrheit kommt.
Nach ihrem Zickzackkurs der letzten Tage und insbesondere nach ihren Ausfällen gegen das Parlament ist Mays Position auch nach Ansicht früherer Mitstreiter unhaltbar geworden. Ein ehemaliger Berater Mays, der Tory-Abgeordnete George Freeman, sagte am Wochenende: „Ich fürchte, es ist vorbei für die Premierministerin.“ Ihre schärfsten Kritiker halten Mays Ablösung für unumgänglich, weil sie deren gesamte Brexit-Politik als gescheitert betrachten.
„Die Regierung ist gelähmt, Vertrauen in die Demokratie bricht zusammen – so kann es nicht weitergehen“, meinte Freeman. Paul Maynard, einer der Fraktionsführer der Konservativen im Unterhaus, soll May sogar ins Gesicht gesagt haben, dass sie gehen müsse, weil sie „den Brexit verraten“ habe „und unsere Partei zerstört“. Eine Idee konsensbedachter Kabinettsmitglieder ist offenbar, dass der als Vizepremier fungierende „gemäßigte“ Minister für Kabinettsfragen, David Lidington, provisorisch die Regierungsgeschäfte führen und das Land durch den Brexit steuern soll, bis im Herbst ein neuer Partei- und Regierungschef gewählt wird.
Dagegen stemmen sich aber die Brexiteers innerhalb und außerhalb der Regierung. Sie fürchten, dass Lidington sich mit der Labour Party kurzschließen und einen „weichen Brexit“ vereinbaren könnte, der für sie „gar kein richtiger Brexit“ wäre. Kandidaten für die Parteispitze wie Außenminister Jeremy Hunt wollen ohnehin keine provisorische Lösung tolerieren, sondern gleich zu einer Neuwahl zum Vorsitz übergehen.
Vizepremier Lidington selbst leugnete am Sonntag alles Interesse an einer May-Nachfolge und lobte die Premierministerin. Und einige Tories warnten nachdrücklich vor einem „Personalwechsel“ in der gegenwärtigen Situation. Sie erklärten, May jetzt aus dem Amt zu zwingen würde „das Land in parlamentarische Neuwahlen stürzen und die Partei zerreißen“. Schatzkanzler Philip Hammond fand, eine solche Aktion würde „das Problem nicht lösen“ – auch wenn er gut verstehe, dass seine Kollegen „äußert frustriert“ seien und „verzweifelt nach einem Weg nach vorn“ suchten.
In noch größere Bedrängnis dürfte May an diesem Montag kommen, weil viele Hinterbänkler im Unterhaus dafür stimmen wollen, den Mittwoch für „Probeabstimmungen“ über allerlei Brexit-Alternativen zu reservieren. Kommt es zu einer solchen Entscheidung, nimmt das Unterhaus der Regierung erstmals die Zügel aus den Händen. Unklar ist aber, was passiert, wenn die Parlamentarier sich für etwas aussprechen sollten, was die Regierung nicht will.
Die Politik stand am Wochenende unter dem Eindruck einer der größten Demonstrationen, die das Land je gesehen hat. Hunderttausende drängten sich am Samstagmittag mit ihren Pro-EU-Fahnen im Hyde Park und auf der Park Lane. Als die Spitze des Zugs im Regierungsviertel Whitehall ankam und die ersten Redner mit ihren Ansprachen begannen, hatte sich das Ende der enormen Menschenschlange in Hyde Park Corner noch immer nicht in Bewegung gesetzt.
Eine Million Menschen zog an diesem Tag protestierend durch London – so viele wie beim legendären Marsch von 2003 gegen den Irakkrieg, der bislang größten britischen Demo überhaupt. Bereits mehr als fünf Millionen Menschen haben bis Samstag eine Online-Petition für den Verbleib Großbritanniens in der EU unterzeichnet. Keine andere Petition auf der Webseite des Parlaments habe jemals so viel Zulauf bekommen, berichtete die Nachrichtenagentur PA.