„Rot steht für Liebe, aber auch für Leiden“

Interview Nach 29 Jahren gibt Jürgen Hestler heute seinen Posten als SPD-Kreisvorsitzender ab. Im Interview blickt der 71-Jährige zurück auf drei Jahrzehnte voller Höhen und Tiefen und äußert sich auch zur aktuellen Politik von Olaf Scholz und zu Altkanzler Gerhard Schröder.

„Rot steht für Liebe, aber auch für Leiden“

Abschied mit Wehmut: „Seinen Hut in den Ring zu werfen fällt leichter, als seinen Hut zu nehmen“, sagt der scheidende SPD-Kreisvorsitzende Jürgen Hestler. Foto: Alexander Becher

Die wichtigste Frage zuerst: Wie geht es Ihnen heute, ein halbes Jahr nachdem Sie einen Herzstillstand hatten und reanimiert werden mussten?

Körperlich geht es mir gut. Damals hat eine höhere Instanz gesagt: „Deine Zeit ist rum.“ Aber meine Sportkameraden hatten etwas dagegen. Deshalb bin ich jetzt in der Verlängerung, und als alter Fußballer weiß ich, dass man in der Verlängerung mit seinen Kräften haushalten muss.

Beim SPD-Kreisparteitag werden Sie heute nach 29 Jahren den Kreisvorsitz abgeben. Ist diese Entscheidung alleine der Gesundheit geschuldet oder war der Rückzug ohnehin geplant?

Ich werde im Sommer 72. Da denkt man natürlich daran, nach und nach einige Aufgaben und Ämter abzugeben. Der Vorfall im September war jetzt der Anlass, damit anzufangen. Ich stelle aber fest, dass es leichter ist, seinen Hut in den Ring zu werfen als seinen Hut zu nehmen. Ein bisschen Wehmut ist schon dabei.

Sie sind 1976 in die SPD eingetreten. Erinnern Sie sich noch, was damals der Anlass war?

Damals war ich noch in Tübingen und habe mich schon ein wenig im Landtagswahlkampf für Erhard Eppler engagiert. Er hat damals viele überzeugt und ich war mir sicher: Der macht das. Aber die SPD hat die Wahl trotzdem verloren. Da dachte ich mir, ich muss etwas tun, und bin am Tag nach der Wahl der SPD beigetreten.

Damals war Helmut Schmidt Bundeskanzler und die SPD lag bundesweit bei 45 Prozent. Seitdem sind Sie mit Ihrer Partei aber auch durch viele Täler gegangen. Gehört Leidensfähigkeit zu den wichtigsten Eigenschaften eines SPD-Funktionärs?

Rot ist ja die Erkennungsfarbe der SPD und Rot steht in der Farbpsychologie für Liebe und Leidenschaft, aber auch für Leiden und Schmerz. Ich glaube, das ist eine ganz gute Metapher für Parteiarbeit in der SPD. Man leidet, in Württemberg vielleicht noch mehr als in anderen Bundesländern, aber man freut sich auch. Ich bekomme zum Beispiel heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie ich Willy Brandt 1991 beim Parteitag in Bremen die Hand schütteln durfte, denn er war ein großes Vorbild für mich.

Gab es auch Momente, in denen Sie gedacht haben: Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt?

Eigentlich nach jeder Wahl. Wir haben im Weissacher Tal immer sehr viel gemacht im Wahlkampf, haben uns eingesetzt und engagiert, haben aber bei den Wahlen trotzdem nicht besser abgeschnitten als in anderen Gemeinden. Zum Teil waren die Ergebnisse in Gemeinden, in denen es gar keinen SPD-Ortsverein gibt, sogar besser als bei uns. Da fragt man sich natürlich schon: Was soll das Ganze? Aber wir haben trotzdem weitergemacht – für die Sache und auch wegen der Gemeinschaft.

Neben Ihrem parteipolitischen Engagement waren Sie als Lehrer am Murrhardter Heinrich-von-Zügel-Gymnasium auch immer ein Werber für die Demokratie. Und das mit Erfolg: Etliche Ihrer ehemaligen Schüler engagieren sich heute in der Politik. Freut Sie das?

Auf jeden Fall. Ehemalige Schüler von mir sind heute in den unterschiedlichsten Parteien aktiv: ob Gernot Gruber in der SPD, Ralf Nentwich bei den Grünen oder Tom-Lukas Lambrecht, der stellvertretende Kreisvorsitzende der CDU. Es war mir immer wichtig, Demokratie nicht nur zu lehren, sondern auch praktizieren zu lassen. Wenn ich ehemalige Schüler treffe, zeigen sie mir oft noch heute ihre geöffnete Hand, denn anhand der Finger habe ich immer die fünf Merkmale einer Demokratie erklärt: Legitimation, Kontrolle von Macht, Repräsentation, Partizipation und Grundrechte. Wenn so etwas hängen bleibt, dann freut mich das natürlich.

Ihre didaktischen Fähigkeiten haben Sie auch regelmäßig bei Parteiveranstaltungen eingesetzt.

Stimmt. In meinen Anfängen als Kreisvorsitzender bestanden Parteiversammlungen aus einem Vortrag mit anschließender Diskussion – das war so was von langweilig. Ich habe immer versucht, die Teilnehmer zu beteiligen und zum Beispiel eingeführt, dass sie ihre Ideen und Gedanken auf die Tischdecke oder einen Bierdeckel schreiben sollten. Da hat mancher gedacht: Jetzt spinnt er total. Aber ich bin der Meinung, dass man politische Botschaften und Informationen in Geschichten verpacken muss, wenn sie gehört werden sollen.

Die Position des Kreisvorsitzenden ist für viele ein Sprungbrett für eine politische Karriere. Hat es Sie nie gereizt, die Politik zum Beruf zu machen?

Ich wollte immer Lehrer bleiben und nicht durch meine politische Tätigkeit mein Brot verdienen müssen. Als der Landtag 2011 zu einem Vollzeitparlament wurde, habe ich deshalb nicht mehr kandidiert. Das haben damals auch in meiner Partei viele nicht verstanden. Aber ich glaube, wenn man Schülern demokratisches Bewusstsein beibringt, kann man dadurch mehr bewirken als in einem Parlament.

Als Vorsitzender des Ortsverbandes haben Sie immer wieder prominente Politiker ins Weissacher Tal geholt. Auch der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz war 2017 zu Gast auf dem „Roten Stuhl“. Momentan steht er in der Kritik, weil er beim Thema Waffenlieferungen an die Ukraine nach Ansicht vieler zu zögerlich agiert. Fehlt es dem Kanzler an Führungsstärke?

Gott sei Dank ist er zögerlich und denkt nach. Wenn es um die Frage geht, ab wann Deutschland Kriegspartei ist, brauchen wir keinen Basta-Kanzler, sondern einen, der genau überlegt. Wenn wir zum Beispiel Marder-Panzer liefern würden, dann müssten wir auch Militärberater mitschicken, weil die Systeme permanent gewartet werden müssen. Aber wenn wir das tun würden, dann wären wir Kriegspartei. Ich denke, speziell wir Deutschen sollten da sehr zurückhaltend sein, obwohl auch ich emotional bei den Ukrainern bin. Mich wundert übrigens, wie schnell die Grünen ihre Gesinnung bei diesem Thema gewechselt haben. Ich hatte immer gedacht, die Grünen kommen aus der Friedensbewegung.

Aktuell sorgt noch ein anderer SPDPolitiker für Diskussionen: Ex-Kanzler Gerhard Schröder geht bis heute nicht auf Distanz zu Präsident Wladimir Putin. Sie haben kürzlich einen Brief an Schröder geschrieben. Was stand drin?

Ich habe ihm geschrieben, dass ich mit ihm zusammen auf der Straße war gegen den Irakkrieg und vieles bewundert habe, was er getan hat. Auch die Agenda 2010 hielt ich im Gegensatz zu vielen in meiner Partei von der Sache her für richtig. Aber ich erwarte jetzt auch, dass er sich von Putin distanziert und fände es gut, wenn er seine Ämter bei russischen Firmen ruhen lässt.

Und hat er Ihnen geantwortet?

Bisher nicht. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ihm seine Mitarbeiter abgehauen sind.

Ist Schröder aus Ihrer Sicht für die SPD noch tragbar oder sollte die Partei ihn rausschmeißen?

Ich werde keine Initiative unterschreiben, die einen Parteiausschluss verlangt. An der Situation in der Ukraine ändert sich dadurch ja nichts und wir hätten dann zwei oder drei Jahre die Schlagzeilen. Außerdem habe ich immer noch die Hoffnung, dass Gerhard Schröder seine Kontakte zu Putin irgendwann einmal nutzen kann.

Wie geht es für Sie persönlich weiter? Wollen Sie politisch aktiv bleiben oder ist der Rückzug vom Kreisvorsitz der erste Schritt zum endgültigen Abschied aus der Politik?

Die Ärzte haben zu mir gesagt: Gesund ist, wenn ich das mache, was für mich wichtig ist. Jetzt muss ich eben definieren, was mir noch wichtig ist. Im SPD-Ortsverein bin ich erst im Dezember noch einmal für zwei Jahre gewählt worden, auch als Kreisrat bin ich noch bis 2024 im Amt. Und es würde mich auch freuen, wenn ich meine Erfahrungen weiterhin als Ratgeber einbringen darf. Am meisten würde es wohl wehtun, wenn ich nicht mehr gehört würde.

Das Gespräch führte Kornelius Fritz.

Jürgen Hestler

Vita Jürgen Hestler (Jahrgang 1950) ist in Hürben, heute ein Stadtteil von Giengen an der Brenz, aufgewachsen. Nach dem Wehrdienst studierte er in Tübingen Geschichte, Politik und Geografie auf Lehramt. 1978 kam er als Lehrer ans Heinrich-von-Zügel-Gymnasium in Murrhardt und blieb dort bis zu seiner Pensionierung 2015. Mit seiner Frau Irmgard lebt er in Weissach im Tal. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder und drei Enkel, das vierte Enkelkind ist unterwegs.

Nachfolge Beim SPD-Kreisparteitag in Unterweissach wird heute Abend ein neuer Vorstand gewählt. Um den Vorsitz bewirbt sich der Bürgermeister der Gemeinde Kernen im Remstal, Benedikt Paulowitsch.