Schutzlos ausgeliefert

Wie die Justiz an psychisch kranken Straftätern scheitert

Von Jürgen Bock

Bei den Behörden gehen immer mehr Meldungen über psychisch auffällige Menschen ein. Manche begehen Straf- taten. Doch weil sie als schuldunfähig gelten, leiden die Opfer oft jahrelang.

Stuttgart Die böse Überraschung wartet vor der Haustür. Als die Bewohner einer ruhigen Sackgasse in Göppingen zu ihrem Auto kommen, ist von vorn bis hinten der Lack zerkratzt. Ein Schaden von über 2000 Euro. Die Überwachungskamera, die vor einiger Zeit extra dort aufgehängt worden ist, hat der Täter vorher unschädlich gemacht. Die Autobesitzer informieren die Polizei. Wieder einmal. Denn dort sind sie inzwischen Stammkunden. „Wir müssen uns zwingen, überhaupt noch hinzugehen“, sagen die Betroffenen. Und: „Uns hilft ja doch niemand. Wie immer.“

Der Verdacht liegt nahe, dass die Täterin wohlbekannt ist. Die Frau lebt in derselben Wohnanlage. Seit über sechs Jahren terrorisiert sie ihre Umgebung. Bis heute folgenlos. Denn die psychisch kranke Frau ist von einem Gutachter als schuldunfähig eingestuft worden. Bei der Polizei hagelt es Anzeigen: Beleidigung, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Diebstahl.

Die Nachbarn berichten, die Frau verlasse ihre Wohnung nur mit einem Gürtel, an dem Pfefferspray und ein Messer befestigt sind. Morddrohungen sind aktenkundig, die sie in einer Bankfiliale gegen jemanden ausgesprochen hat – von der Überwachungskamera aufgezeichnet. Sie soll mit einem Tele­skopschlagstock eine Nachbarin schwer verletzt haben. Doch dafür gibt es keinen unabhängigen Zeugen. Einen anderen Anwohner hat sie fälschlicherweise bezichtigt, sie vergewaltigt zu haben. Die komplette Wohnanlage lebt in Angst und Schrecken. Einer der Nachbarn will seine Wohnung jetzt verkaufen – nur weg vom Dauer-Terror. „Wir fühlen uns von den Behörden im Stich gelassen“, klagen die Opfer.

Der Fall ist klar – und doch kompliziert. Der Ulmer Oberstaatsanwalt Michael Bischofberger berichtet von „einer Vielzahl von Ermittlungsverfahren“. Seit 2014 sind es allein sieben gewesen. Allerdings: „Es mussten alle wegen Schuldunfähigkeit eingestellt werden.“ Nur einmal kam es zu einer Verurteilung – wegen Fahrens ohne Führerschein. Da kam das Gericht zum Schluss, dass diese Tat nichts mit der psychischen ­Erkrankung zu tun hat und deshalb bestraft werden kann.

In den Augen der Anwohner hat die Frau einen Freifahrtschein. Zumindest solange sie es nicht übertreibt. Denn eine Unterbringung in einer Psychiatrie kommt nur infrage, wenn eine erhebliche Gefährdung für die Allgemeinheit oder für sich selbst von ihr ausginge. Andere müssten durch sie „körperlich, seelisch oder wirtschaftlich erheblich geschädigt“ werden. Das hat der Gutachter bisher trotz aller Taten verneint. Die Nachbarn sehen das ganz anders.

Dass solche Täter einen Persilschein ­haben, weist Bischofberger freilich zurück: „Die Lage wird bei jeder Tat wieder neu ­geprüft.“ Auch durch die Stadt Göppingen, deren Sprecher zum Fall aber nichts sagen will. Denn auch die Kommune kann unter den genannten Voraussetzungen über ein amtsärztliches Gutachten bei Gericht eine Zwangseinweisung beantragen. Das komme immer wieder vor, heißt es.

Auch in Stuttgart. Und dort in einem ­Maße, das außergewöhnlich ist. Noch vor wenigen Jahren sind bei der Stadt jährlich rund 1000 Hinweise auf psychisch auffällige Menschen eingegangen. Inzwischen sind es 5000. „Die Meldungen haben stark zugenommen“, sagt Stefan Praegert vom Ordnungsamt. Alles sei dabei, was man sich vorstellen könne: „Das geht vom Messie über verwahrloste Menschen und Drogenkonsumenten bis hin zur Aussage, dem Nachbarn gehe es seelisch nicht gut“, weiß der Dienststellenleiter für allgemeine Sicherheits- und Ordnungsangelegenheiten. Man prüfe dann, in welchen Fällen man einschreiten müsse.

Im Großteil geht es ohne weitere Maßnahmen, aber am Ende bleibt doch einiges übrig. Die Zahl der zwangsweisen Unterbringungen ist zwischen 2016 und 2018 von neun auf 49 gestiegen. 122 Hausbesuche gab es im vergangenen Jahr und 153 Weiterleitungen an die Sozialdienste – überall Anstiege. „Noch kommen wir personell hin, aber viel mehr sollte es nicht mehr werden“, sagt Praegert.

Auch beim Land gibt es einen Trend. Seit Anfang 2015 gilt in Baden-Württemberg das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz. Es bildet erstmals eine gesetzliche Grundlage für solche Patienten. In diesem Rahmen ist auch ein Melderegister geschaffen worden. Darin wird erfasst, wie viele Menschen zwangsuntergebracht worden sind. 2015 waren es noch 5619, in den beiden Folgejahren bereits jeweils knapp 6700. Und besonders deutlich ist der Trend im Maßregelvollzug. Dort landen schwere Straftäter, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht ins Gefängnis kommen. Ende 2000 waren es im Land noch 520. Ende Februar ist mit 692 ein Höchststand erreicht worden. „Wir haben seit Jahren einen steigenden Trend“, sagt Claudia Krüger vom Sozialministerium.

Die Zahlen gehen also allenthalben nach oben. Aber warum? Sind immer mehr Menschen psychisch krank? Im Sozialministerium tut man sich mit einer Erklärung schwer. Zumindest der Anstieg beim neuen Melderegister liege auch daran, dass es sich im ersten Jahr noch im Aufbau befunden ­habe. Stefan Praegert vom Stuttgarter Ordnungsamt glaubt, dass „die Leute inzwischen aufmerksamer sind“. Sprich: Es wird schneller gemeldet als früher. Dabei helfen auch bequeme digitale Wege, sagt Oberstaatsanwalt Bischofberger. Und er glaubt, dass früher wohl die Familie mehr aufgefangen habe als heute. Viele Menschen leben ­allein, das Umfeld ist anonym.

Das hilft den Opfern allerdings wenig. Das kann auch eine Vermieterin aus Stuttgart berichten. „Eine neue Mieterin, die ­direkt über mir eingezogen ist, hat sich nach kurzer Zeit als psychisch krank erwiesen“, erzählt sie. Die Miete blieb aus. Beschimpfungen, Beleidigungen, wirre Briefe, stundenlang laute Musik samt Gebrüll mitten in der Nacht. „Wenn ich die Polizei gerufen habe, haben die Beamten bei ihr geklingelt. Und wenn sie nicht aufgemacht hat, sind sie halt wieder gegangen“, sagt die Vermieterin. Zwei Jahre lang geht das so. Kündigung, ­Anwaltsschreiben, Hilfeersuchen bei den Behörden – nichts hilft. Dann, eines Tages, flüchtet die Frau plötzlich mit einem Koffer in der Hand. Kurz darauf stellt sich ihr gesetzlicher Betreuer vor. Er lässt die Wohnung ausräumen und die Schlösser tauschen.

Wenige Wochen später bricht die Vermieterin selbst zusammen. Die jahrelangen Belastungen waren zu viel. Es dauert Monate, bis sie wieder einigermaßen auf den Beinen ist. Eine erhebliche Gefährdung hat auch in diesem Fall niemand gesehen. „Das ist eine Schande“, sagt die Betroffene.

„Die Leute erwarten oft zu viel von der Polizei“, sagt ein Göppinger Polizeisprecher. Trotzdem sei es richtig, die Beamten immer zu rufen. Die informierten dann die Kommune. „Dort müssen die Behörden handeln.“ Doch die Hürden sind hoch – auch für die Staatsanwaltschaften. „Wir haben kein anderes Mittel als die Zwangsunterbringung, doch das ist ein scharfes Schwert. Die Folgen sind erheblich, denn das kann für den Betroffenen bedeuten, dass er Jahre in der Psychiatrie verbringen muss“, so Bischofberger. Solche Fälle wie den in Göppingen habe es schon immer gegeben. Es handle sich in ­dieser Ausprägung aber um Ausnahmen.

Im Sozialministerium hält man die Gesetzeslage für passend. „Aus unserer Sicht ist das geltende Gefahrenabwehrrecht ausreichend, um in Akutsituationen angemessen zu reagieren“, heißt es dort. Das würden die Anwohner der ruhigen Göppinger Sackgasse nicht bestätigen. „Nach sechs Jahren wissen wir nicht mehr, was wir noch tun sollen“, sagen sie. Und warten darauf, welche böse Überraschung wohl als nächste folgt.