Vor der Liebe war der Krebs

Stuttgarter Paar besiegt Krankheit und gründet Familie

Von Viola Volland

Lebensweg - Im Olgahospital gibt es seit 30 Jahren eine Kinderonkologie. Siegfried und Tanja Weiß gehörten zu den ersten Patienten. Sie sind seit 1996 ein Paar und machen mit ihrer Geschichte jungen Betroffenen Mut.

Stuttgart Bei vielen Paaren können wegen Kleinigkeiten die Fetzen fliegen. Siegfried und Tanja Weiß wundert das immer etwas. Das Leben sei doch viel zu schön, um sich zu streiten, wer den Abwasch mache, finden die beiden. Ihre Beziehung hat eine Basis, die nicht leicht zu erschüttern ist: Beide sind Überlebende.

Vor rund 30 Jahren erkrankten Siegfried und Tanja jeweils im Teenageralter an Krebs. Die zwei gehören damals zu den ersten Patienten der Pädiatrischen Onkologie am Stuttgarter Olgahospital. Heute hat das Paar selbst drei Kinder – und ist den Ärzten und Pflegekräften von der Kinderkrebsstation, die dieser Tage ihr Jubiläum feiert, immer noch unheimlich dankbar.

Siegfried Weiß war 14, als er plötzlich nicht mehr durch die Nase atmen konnte. Wenig später, im Frühjahr 1988, wurde ein Weichteilsarkom, ein Tumor, in seinem Rachen festgestellt. Der Realschüler, der seine Freizeit am liebsten mit den Freunden beim Kicken verbrachte, musste den Bolzplatz mit dem Krankenbett tauschen – und fand das zunächst nicht mal schlimm. Seine Noten waren zuletzt in den Keller gerutscht. „Supergeil, ich muss nicht mehr in die Schule!“, dachte er sich. Da hatte er noch keine Ahnung, was ihn erwartete. Auf der damals neu eröffneten Krankenhausstation gab es Micky-Maus-Telefone, Fernseher, Videorekorder. Doch schon bald sollte Siegfried sich zurück ins Klassenzimmer wünschen.

In Deutschland wird bei rund 2500 Kindern und Jugendlichen im Jahr eine Krebserkrankung diagnostiziert – und es gibt heute für die meisten Hoffnung. Früher sei die Erkrankung „fast durchweg tödlich verlaufen“, sagt der Ärztliche Direktor, Stefan Bielack, der die Abteilung seit 2005 leitet. Heute überleben vier von fünf Kindern.

Revolutioniert worden sei die Krebstherapie von Kinder und Jugendlichen in den ­70er und 80er Jahren, sagt Bielack, der ein ­renommierter Knochenkrebsexperte ist und 2016 mit dem Deutschen Krebspreis ausgezeichnet wurde. In den vergangenen 30 Jahren hätten sich die Grundzüge der meisten Therapien zwar nicht geändert – dennoch habe sich auch in dieser Zeit viel getan. So konnten die Nebenwirkungen der Therapien verringert werden, bei manchen Medikamenten sei man heute zurückhaltender. Sie werden nicht mehr zu Beginn einer Therapie gegeben, weil sie Herzschäden verursachen oder die Nieren schädigen können. Auch die Mittel gegen Übelkeit seien deutlich besser geworden. „Früher konnte man auf dem Flur hören, welche Medikamente gerade in welchem Zimmer gegeben wurden“, sagt er.

Die starke Übelkeit werden auch Siegfried und Tanja Weiß nie vergessen. Er magerte von 65 auf 35 Kilogramm ab, fühlte sich fremd im eigenen Körper, wollte nicht fotografiert werden. Nach einem Dreivierteljahr bat er darum, seinen Therapieplan zu verkürzen. Er konnte nicht mehr. Bei einem Kontrolltermin ein Jahr nach Therapieende sah es kurz so aus, als räche sich das. „Da war ein Schatten auf der Lunge“, erzählt Weiß. Sein Vater, er war schon über 70, war damals außer sich. Doch eine Untersuchung im Computertomografen brachte Entwarnung – zum Glück.

Auch Tanja Weiß, die mit Mädchennamen Jeremias hieß, magerte während ihrer Chemo ab. Nichts konnte sie bei sich behalten. „Ich hätte nie gedacht, dass man sich derart übergeben kann“, sagt sie. Sie war im Juni 1990 erkrankt. An ihrem rechten Oberschenkel hatte die 15-Jährige etwas gefühlt, das da nicht hingehörte. Sie tippte auf eine Sportverletzung, als sie mit ihrem Vater ins Diakonie-Klinikum fuhr. Mit dem Verdacht auf ein Osteosarkom, einen Knochentumor, wurde sie noch am selben Tag in die Kinderonkologie geschickt.

Ihr Vater ahnte gleich, was das bedeutete – und hustete auf der kurzen Fahrt zum Olgahospital durchgängig. „Ich hatte dagegen nie Angst, dass ich sterben könnte“, sagt sie. Aber vor der Operation, vor der hatte sie Angst: Rund 25 Zentimeter vom Oberschenkelknochen mussten entfernt werden, stattdessen setzte man ein Stück Wadenbein ein. Der Eingriff glückte, doch „mit Rennen war es erst mal vorbei“, erzählt sie. Ihr Bein sollte nie mehr so belastbar sein wie zuvor.

Erst vor einigen Jahren hat sie sich zweimal kurz hintereinander den Oberschenkel gebrochen – einfach so beim Treppensteigen. Sie humpelt immer noch leicht. Kürzlich habe ihre Tochter erzählt, dass sie als kleines Kind gedacht habe, das sei normal: dass alle Mütter nicht rennen könnten. Und wie erschrocken sie gewesen sei, als vor ihr eine Mutter schnell lief. Anna-Sophie ist gerade 16 Jahre alt geworden. Ihren eigenen 16. Geburtstag hat Tanja Weiß im Olgahospital gefeiert – wenige Wochen später, Ende März 1991, war sie fertig mit der Therapie.

Sie wiederholte die Klasse. Siegfried hingegen ließ sich nach dem Jahr Chemotherapie nicht zurückstufen. Er wollte zurück zu seinen Freunden – und tat sich dann doch schwer. Die Kumpel rauchten plötzlich fast alle, wollten vor allem cool sein. Er dachte damals: „Ich bin gerade dem Tod von der Schippe gesprungen, da fange ich doch nicht an zu rauchen.“ Er war der Gleiche und doch ein Anderer. Reifer, erwachsener als die Freunde.

Auch Tanja hatte Probleme nach Therapieende – die Verarbeitung ging erst los. Mehrere ihrer Freunde aus dem Krankenhaus starben in dieser Zeit, da sei es schwer gewesen, sich auf die Schule zu konzentrieren. Warum gerade sie? Warum hatten sie nicht auch Glück? Die junge Tanja schrieb sich die traurigen Gedanken von der Seele. Verstanden haben sie ihre neuen Freundinnen und Freunde von der Station und von Prima Klima, einem Freizeitlager für Kinder und Jugendliche, die am Ende ihrer Krebstherapie sind oder diese gerade hinter sich haben.

1992, bei der ersten Prima Klima, haben sich Siegfried und Tanja Weiß kennengelernt. Er war Mitinitiator und Betreuer, sie Teilnehmerin – ab 1993 wurde auch sie Betreuerin. Für die Vorbereitungen trafen sie sich im Olgahospital. Die beiden wurden Freunde. Dann kam die Liebe. Seit 1996 sind sie ein Paar. Im Oktober 2002, bei ihrer Hochzeit, war sie bereits schwanger. Sie hatten zuvor Sorgen, wegen der Chemotherapie vielleicht keine Kinder bekommen zu können, weil die Fruchtbarkeit beeinträchtigt sein kann. Doch es klappte problemlos. Anna-Sophie kam wie auch die Söhne gesund auf die Welt. Felix ist heute 13, Jonas ist acht Jahre alt. Zusammen mit dem quirligen Labrador Barry lebt die Familie in einem schönen Haus in Stuttgart-Degerloch. Zu den Abschiedsabenden von Prima Klima kommen sie, wenn möglich, immer noch.

Tanja Weiß ist Versicherungskauffrau, Siegfried Weiß Projektmanager im IT-Bereich bei Daimler. Er hat seinen Weg geradlinig gemacht – und glaubt, dass es auch mit der überwundenen Krankheit zu tun hat, dass er so zielstrebig und optimistisch ist. Als junger Mann habe er sich „wie Superman“ gefühlt. Weil er es geschafft hatte. Was sollte da noch kommen?

Stefan Bielack kennt das von heutigen Patienten: „Wenn man sich in so jungen Jahren einer so existenziellen Herausforderung stellen muss, führt das bei manchen dazu, dass sie sehr schnell sehr reif, vielleicht auch weise werden.“ Die Jugendlichen könnten die positiven Seiten des Lebens viel mehr erkennen. Er hat einige „wahnsinnig beeindruckende Menschen erleben dürfen – darunter sind gerade auch junge Menschen, die gestorben sind“.

Siegfried und Tanja Weiß haben sich in den vergangenen 30 Jahren immer wieder von lieb gewonnenen Menschen verabschieden müssen. Das verändert die Perspektiven. Manchmal fragen den Familienvater fremde Kinder, warum er so komisch spreche – seit der Erkrankung näselt er. Erwachsene trauen sich das nicht. Er hat sich einmal selbst auf Band aufgenommen, fand seine Stimme hässlich, aber da steht er drüber. „Das ist der Preis dafür, das Leben geschenkt bekommen zu haben. Ich habe vielleicht keine schöne Stimme mehr, aber ich lebe.“ Das versucht er auch krebskranken Kindern zu vermitteln, die zum Beispiel eine Amputation hinter sich haben: „Du lebst, das ist doch viel mehr wert als ein Körperteil.“