dpa/lsw Stuttgart. Die Grünen laden zum Bewerbungsgespräch: Jeweils eineinhalb Stunden nehmen sich Kretschmann und Co., um die möglichen Koalitionspartner zu beschnuppern. Bei der CDU macht Eisenmann den Weg endgültig frei für den Neuanfang. Nun ist die Frage: Wie zahm gibt sich die FDP?
Andreas Schwarz (Bündnis 90/Die Grünen, l-r), Fraktionsvorsitzender in Baden-Württemberg. Foto: Marijan Murat/dpa
Die grünen Wahlsieger machen bei der Suche nach einem Koalitionspartner Tempo. Schon an diesem Mittwoch wollen sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und die Grünen-Spitze mit allen drei möglichen Bündnispartnern zu Sondierungsgesprächen treffen. Zunächst war geplant gewesen, am Mittwoch nur mit der CDU zu starten und das erste Gespräch über ein mögliches Ampel-Bündnis mit SPD und FDP erst am Freitag zu führen. Erfahrene Abgeordnete sagten am Rande der ersten Grünen-Fraktionssitzung, der Reiz, nach fünf Jahren mit der CDU nochmal etwas Neues zu probieren, sei groß. Aber man sei sich unsicher, wie verlässlich die FDP sei. Die Chancen stünden 50 zu 50.
Die Liberalen stärkten ihrem Spitzenkandidaten Hans-Ulrich Rülke nach dem guten Wahlergebnis vom Sonntag den Rücken und bestätigten den 59-jährigen Pforzheimer als Fraktionschef. Bei den Gesprächen über eine Ampel wird es entscheidend auch darum gehen, ob Rülke nach zehn Jahren Opposition und teilweise brachialer Kritik an der Ökopartei einen Draht zu den Grünen findet. Der Fraktionschef zeigte sich zuversichtlich, dass die Ampel klappt. Aber: „Es gibt natürlich rote Linien für uns“, sagte Rülke, ohne konkret zu werden. Dagegen erklärte FDP-Landeschef Michael Theurer, man werde über alles reden. „Ich werde nicht über rote Linien sprechen.“
Die CDU setzt voll auf Landeschef und Innenminister Thomas Strobl, der in den vergangenen fünf Jahren als Vertrauter von Kretschmann galt. Die Union will unbedingt verhindern, neben der AfD in der Opposition zu landen. Für die CDU sollen neben Strobl Generalsekretär Manuel Hagel, Fraktionschef Wolfgang Reinhart, Fraktionsvize Nicole Razavi sowie die Sigmaringer Landrätin Stefanie Bürkle die Chancen für eine Neuauflage von Grün-Schwarz ausloten. Nach dem Desaster bei der Landtagswahl will die gescheiterte Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann den Weg für einen Neuanfang freimachen. Sie werde sich aus der Politik zurückziehen, bestätigte ihr Sprecher der dpa. Zuerst hatte die „Stuttgarter Zeitung“ berichtet.
Kretschmann will sich nach eigenen Worten bei der Regierungsbildung nicht von taktischen Erwägungen leiten lassen. „In einer Krise darf man nicht noch eine weitere Krise produzieren“, sagte der 72-jährige Regierungschef in der Sitzung der neuen Grünen-Fraktion nach Angaben von Teilnehmern. Die Menschen im Land erwarteten mitten in der Corona-Krise, dass man verlässlich regiere und sich nicht immer streite in einer Koalition. Er werde bei den ersten Sondierungen mit CDU, SPD und FDP an diesem Mittwoch großen Wert auf verlässlichen Umgang legen, sagte Kretschmann demnach.
Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl gibt es dem Vernehmen nach Druck vonseiten der Bundes-Grünen und der Bundes-SPD im Südwesten eine Ampel-Koalition zu bilden, um auch hier zu zeigen, dass es Mehrheiten ohne die Union gibt. Mit Blick auf skeptische Äußerungen von FDP-Chef Christian Lindner zum Thema Ampel, wonach SPD und Grüne nur „Spurenelemente“ der FDP-Politik gut fänden, sagte Rülke: „Da hat Christian Lindner recht. Wenn ich mir Kevin Kühnert und Anton Hofreiter anschaue, da stelle ich in der Tat nur Spurenelemente von Liberalität fest“, sagte er mit Blick auf SPD-Bundesvize Kühnert und Grünen-Bundestagsfraktionschef Hofreiter. „Aber wir sind ja nicht in Berlin, sondern in Stuttgart.“
Die Grünen gehen davon aus, dass es mehrere Sondierungstreffen geben wird. „Wir starten zügig, haben aber keinen Zeitdruck“, sagte Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz der dpa. Der neue Landtag tritt am 11. Mai das erste Mal zusammen, am 12. Mai soll der 72-jährige Kretschmann zum dritten Mal zum Ministerpräsidenten gewählt werden.
Die Grünen hatten die Landtagswahl am Sonntag mit einem Rekordergebnis von 32,6 Prozent gewonnen. Die CDU landete bei nur noch 24,1 Prozent, das ist ein neuer Tiefpunkt. Die AfD büßte am meisten ein im Vergleich zu der Wahl vor fünf Jahren und bekam 9,7 Prozent. Die SPD liegt mit schwachen 11,0 Prozent auf Platz drei vor der FDP, die sich auf 10,5 Prozent steigern konnte.
Zur Sondierungsgruppe der Grünen gehören neben Kretschmann und Schwarz die Grünen-Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand. Als ständige Vertretung wird das Vierer-Team von Finanzministerin Edith Sitzmann zu den Beratungen ins Haus der Architekten in Stuttgart begleitet.
Die SPD nominierte Partei- und Fraktionschef Andreas Stoch sowie Generalsekretär Sascha Binder und die beiden stellvertretenden Vorsitzenden Dorothea Kliche-Behnke und Rita Schwarzelühr-Sutter, die zudem Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium ist.
Für die FDP kommen neben Theurer und Rülke Generalsekretärin Judith Skudelny sowie der Verkehrsexperte der Fraktion, Jochen Haußmann. Rülke wurde bei der ersten Sitzung der neuen FDP-Landtagsfraktion mit 16 von 17 Stimmen wiedergewählt, sagte ein Fraktionssprecher.
Rülke zählte die Punkte auf, die den Liberalen wichtig seien. So lege die FDP Wert auf eine Wasserstoffstrategie des Landes, sie wollten den Verbrennermotor umweltfreundlich machen statt ihn zu verbieten. Rülke forderte zudem neue Impulse bei der Digitalisierung, einen Ausbau der Breitbandversorgung im ländlichen Raum sowie leistungsfähige Endgeräte für Schüler. Zudem wolle die FDP weg von der Fokussierung auf die Gemeinschaftsschulen. Man werde über alles reden und sei kompromissbereit, sagte Rülke. Man mache ja eine Koalition, keine Fusion. Zur persönlichen Ebene sagte er: „Ich glaube nicht, dass es in der persönlichen Sphäre unüberwindliche Hindernisse gibt - weder in Richtung Grüne noch in Richtung SPD.“
© dpa-infocom, dpa:210316-99-846449/3
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Foto: Marijan Murat/dpa