„Wir werden von der Politik vergessen“

Ab heute ist Großbritannien offiziell kein Teil der EU mehr – Briten aus der Region berichten, was der Brexit für sie bedeutet

Seit Mitternacht ist Großbritannien raus aus der Europäischen Union, drei Jahre nach dem entscheidenden Referendum. Was hier lebende Briten vom Brexit halten und welche Fragen und Probleme sie nun beschäftigen, haben wir nachgefragt.

„Wir werden von der Politik vergessen“

Philip Wilburn (58) aus dem englische Goole. Mit dem Brexit sieht er sich jeden Tag konfrontiert. Foto: Goetze Armaturen

Von Kristin Doberer

BACKNANG/ALLMERSBACH IM TAL. Nach über drei Jahren Verhandlungen und vielen gescheiterten Abstimmungen, nach zwei Premierministern und mehreren Neuwahlen, war es heute um Mitternacht so weit: Großbritannien hat die Europäische Union nach 47 Jahren verlassen. Der Brexit beschäftigt auch viele im Ausland lebende Briten. So zum Beispiel David Whitehead aus Backnang. Er stammt aus der englischen Stadt Chelmsford und ist Vorstand für den Partnerverein mit der Stadt.

„Ich war zuerst enttäuscht, aber mittlerweile ist es mir fast egal“, sagt der gebürtige Brite. „Ich lebe jetzt schon fast länger hier als in England und genieße, was ich in Deutschland habe.“ Whitehead ist 1997 nach Deutschland gekommen, arbeitet als Übersetzer und hat mittlerweile die doppelte Staatsbürgerschaft. Obwohl er nicht vorhat, wieder nach England zu ziehen, verfolgte er die Vorgänge um den Brexit sehr genau. Denn er hat einige ungeklärte Fragen. Wie werden Zoll und Wareneinführung geregelt? Was bedeutet der Austritt für Reisen, zum Beispiel nach Chelmsford, Backnangs Partnerstadt? Brauchen Urlauber bald ein Visum? Gibt es hier Ausnahmeregelungen für Vereine wie etwa den Partnerschaftsverein? „Ich habe das Gefühl, wir werden von der Politik vergessen“, sagt der Übersetzer. „Von der EU ebenso wie von Großbritannien. Wir wissen einfach nicht, was jetzt tatsächlich passiert und was das für uns im Alltag bedeutet.“

Viele Briten haben jetzt die doppelte Staatsbürgerschaft

Vor allem die Frage nach der doppelten Staatsbürgerschaft beschäftigt Whitehead sehr. „Ich weiß ja nicht mal, ob ich meinen englischen Pass nach der Übergangsphase abgeben muss“, sagt Whitehead. „Ich würde ihn schon gern behalten.“ Allerdings sei ihm das nicht aus nostalgischen Gründen wichtig, sondern weil er ein Einzelkind ist und womöglich irgendwann erneut nach England muss, um seine Eltern zu pflegen.

Zumindest vorerst wird es noch keine Änderungen geben. Während der Übergangsphase vom 1. Februar bis zum 31. Dezember 2020 bleibt alles wie es ist, damit EU und Großbritannien ihre zukünftigen Beziehungen aushandeln können.

Wie wichtig diese Verhandlungen sind, weiß Philip Wilburn. Er ist 1982 von Goole nach Deutschland gezogen. Mit dem Brexit sieht er sich täglich konfrontiert. Für die Firma Goetze Armaturen ist er für den Export unter anderem nach England zuständig. „Mit den Kunden in Nordeuropa ist das absolut ein Thema. Wir können ja nur die Verhandlungen abwarten und dann mit dem Ergebnis leben“, sagt der 58-Jährige aus Allmersbach im Tal. Dass die Verhandlungen bis Ende 2020 abgeschlossen sein müssen, setze die Europäische Union schon sehr unter Druck.

Er ist wenig überrascht, dass es nun tatsächlich zum Austritt gekommen ist. „Ich war noch kurz vor dem Referendum in England und habe mitbekommen, wie emotional und populistisch das Thema dort behandelt wurde.“ Von Geschäftsreisen nach England weiß Wilburn auch um die Stimmung, die mittlerweile in Großbritannien herrscht: „Im Sommer durfte man das B-Wort in England quasi nicht aussprechen. Der Verdruss, dass einfach nichts vorangeht, war zu groß.“

Auch Christine Enssle ist mittlerweile froh, dass das Hin und Her vorbei ist, obwohl sie die vergangenen Jahre gehofft hat, dass der Brexit doch noch kippt. Dass der Austritt nun Auswirkungen auf ihren Alltag hat, glaubt sie nicht: „Ich bin im Ruhestand, mich wird das alles eher nicht betreffen“, sagt die 72-Jährige. „Deswegen kann ich immer noch nach England reisen. Aber für die Bürger in Großbritannien tut es mir leid. Und Englands große Probleme wird der Austritt wohl nicht lösen.“ Viel zu lange hätte es schlechte Presse über die EU gegeben, aber ihrer Meinung nach könne man der EU nicht an allen Problemen die Schuld geben. Sie lebt seit 1971 im Rems-Murr-Kreis und hat seit vergangenem Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft – vor allem wegen des Brexits. Auch ihre Geschwister, die in England leben, hätten eine doppelte Staatsbürgerschaft für Irland beantragt. „Einfach um sich abzusichern“, sagt Enssle.

Damit sind sie nicht die Einzigen: Nach dem Referendum im Jahr 2016 hat sich die Zahl der Briten, die in Baden-Württemberg die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt haben, mehr als verfünffacht. Viele von ihnen haben wie Enssle und Whitehead bereits viele Jahre in Deutschland gelebt und erst vor kurzem die doppelte Staatsbürgerschaft beantragt. Drei Jahre sind nun seit dem Referendum und dem Austritt vergangen. Drei Jahre voller Unsicherheit. „Diese Unentschlossenheit hat einfach zu lange gedauert“, sagt Whitehead. Besonders die Wirtschaft hätte wegen zögerlichen Investitionen leiden müssen. „Jetzt bin ich schon etwas traurig. Aber ich bin auch froh, dass die lange Unsicherheit endlich vorbei ist.“