Wo Seelsorger ein Skigebiet gründen

Der Körbersee, der angeblich schönste Platz Österreichs, ist auch im Winter ein lohnenswertes Ausflugsziel

Von Ulrike Wiebrecht

Einst war der lange Winter für die Walserdörfer Warth und Schröcken ein Fluch. Heute freuen sich die Skifahrer, dass man am Widderstein so gut carven kann.

warth-schröcken Mit dem Begriff Nordstaulage können die meisten Menschen nichts anfangen. Aber für die Einwohner von Warth ist es ein Schlüsselwort. Die Ausrichtung gen Norden beschert dem Skigebiet reichlich Schnee. So viel, dass es zu den naturschneereichsten von ganz Europa zählt. Den Beweis liefert Fritz Schlierenzauer, der seit mehr als dreißig Jahren morgens um sechs die Schneemenge hinter seinem Haus am Körbersee misst und die Messdaten an die Landeswarnzentrale Vorarlberg weiterleitet. „Die absolute Rekordmenge hat mein Vater im Winter 1998/99 gemessen, als zwischen November und April 16,5 Meter Schnee fielen“, weiß Schlierenzauers Tochter Ulrike zu berichten, die das Berghotel Körbersee betreibt. „Aber selbst im schlechtesten Jahr waren es noch 5,50 Meter.“

Sieht man sich um, ist tatsächlich alles weiß. Der Körbersee, 2017 zum schönsten Platz Österreichs gekürt, ist unter der dicken Schneedecke verschwunden – ebenso wie die umliegenden Almwiesen. Nur hier und da ragen ein paar Tannen oder die Spitzen einiger Gipfel heraus, allen voran der majestätische Widderstein. Warum müssen dann noch Propellermaschinen für zusätzlichen Kunstschnee sorgen? „Für mich müsste das nicht sein. Aber für den Tourismus ist es gut“, meint Schlierenzauer. Denn was die Messergebnisse auch gezeigt hätten, ist, dass zwar nach wie vor reichlich Schnee fällt, die schneebedeckte Zeit jedoch kürzer wird.

Heute soll bis Ende April alles weiß überzuckert sein. Dabei war das in früheren Jahrhunderten eher ein Fluch. Den armen Walserdörfern Warth und Schröcken, die hauptsächlich von Vieh- und Milchwirtschaft lebten, ging in den langen Wintern oft das Heu für die Tiere und das Holz zum Heizen aus. 1813 musste der Pfarrer von Hochkrumbach sogar auf die Kirchbänke zurückgreifen, weil er nichts zum Verbrennen hatte. Sein Nachfolger opferte noch weiteres Inventar, bevor das Dorf völlig verwaiste. Aber auch die Nachbargemeinden Warth und Schröcken galten vielen als sibirisches Exil.

Vor rund 700 Jahren waren Walser aus dem Schweizer Wallis eingewandert. Man hatte ihnen die schwer zugänglichen Gebiete in extremen Höhenlagen von rund 1500 Metern überlassen, damit sie sie besiedelten und urbar machten. Jahrhundertelang führten sie ein weitgehend autarkes, aber karges Leben. Bis ins 20. Jahrhundert wurden immer wieder Kinder zum Viehhüten nach Deutschland geschickt, weil man sie bei Tisch nicht satt bekam. Bei dem rauen Klima wuchs nicht viel mehr als Gras. Und es war mehr als mühselig, die steilen Hänge zu mähen. „Selbst in meiner Kindheit habe ich noch erlebt, dass alle mithelfen mussten, das Heu einzubringen“, erinnert sich Angela Schwarzmann vom Tourismusbüro Warth-Schröcken.

Unter solchen Bedingungen musste es dem Warther Pfarrer Johann Müller wie ein Wundermittel vorgekommen sein, als er 1894/95 in einer Zeitschrift ein Bild von Skiern sah, mit denen man sich in Schweden und Norwegen fortbewegte. „Ich dachte mir sofort, das wäre auch für den Tannberg etwas Praktisches, wo es alle Jahre wegen Schneemenge und Lawinengefahr nicht nur Tage, sondern Wochen gab, wo kein Mensch die Gemeinde verlassen und keiner in die Gemeinde kommen konnte“, schrieb er später im „Vorarlberger Volksblatt“. Sogleich bestellte er sich zwei Bretter, schickte ausreichend Gulden gen Norden, und als die „Schwedischen“ eintrafen, übte er erstmal nachts heimlich auf dem Kirchhof. Immer wieder fiel er hin. Doch eines frühen Morgens wagte er sich nach Lech hinunter. „Ich kam, abgesehen von ein paar Stürzen, nach 1 ? Stunden gut hinüber, zu einer Zeit, als mein Nachbar, der Pfarrer von Lech, kaum aus den Federn gekrochen war“, heißt es in seinem Bericht. Damals konnte er nicht ahnen, dass eines Tages unzählige Skifahrer seinen Spuren folgen würden – auf der Pfarrer-Müller-Freeride-Tour, zu der professionelle Skiguides einladen. Er konnte sich noch nicht einmal vorstellen, dass man das Fahren auf den skandinavischen Brettern irgendwann freiwillig als Sport betreiben würde. Und erst recht nicht, dass aus den armen Walserdörfern einmal beliebte Wintersportdestinationen werden würden.

Doch bevor es soweit war, sollten noch etliche Jahre vergehen. Erst musste ein weiterer Pfarrer, Josef Essl, 1924 seinen Pfarrhof als erste Pension von Warth eröffnen und um 1926 herum eine Skischule gegründet werden. Nachdem hier Studenten aus Berlin ihre ersten Schwünge gemacht hatten, kaufte das Institut für Leibesübungen der Berliner Universität das Gemeindearmenhaus und ersetzte es durch ein neues, Berliner Hütte genanntes Haus. 1927 wedelten dann schon um die hundert junge Damen und Herren die sonnigen Hänge am Tannberg hinunter. Zigtausende sollten ihnen folgen, als 1953 der erste Skilift in Betrieb ging.

Heute stehen Skifahrern und Snowboardern 88 Liftanlagen, 305 Kilometer Piste und 200 Kilometer Freeride-Abfahrten zur Verfügung. Durch den Zusammenschluss mit dem Skigebiet Lech-Zürs und St. Anton wurde Ski Arlberg 2013 zum größten Ski­gebiet Österreichs. Dennoch sind die ­traditionellen Dörfer vom mondänen ­Skizirkus eines Lech verschont geblieben. Das Après-Ski-Programm beschränkt sich auf gemütliche Hütten oder die Terrasse des Berghotels Körbersee, wo man sich bei ­herzhaftem Walser Käsfladen ausmalen kann, wie der schönste Platz Österreichs im Sommer aussieht.