Blutsbande (1) - Ihr Vater ist der ganzen Republik aus dem Fernsehen bekannt: Schauspieler Walter Sittler. Über ihre Kindheit kann Jennifer Sittler nicht klagen – aber sie hatte zeitweise Probleme, sich im Leben zurechtzufinden.
Stuttgart Kurzzeitig sieht es so aus, als würde Jennifer Sittler in die riesigen Fußstapfen ihres Vaters –Walter Sittlerhat Schuhgröße 50 – treten: In der ZDF-Schmonzette „Die Wüstenrose“ spielt sie an seiner Seite die Farmerstochter Maris von Salomon. Die Mitschülerinnen am Stuttgarter Mörike-Gymnasium sind etwas neidisch auf Jenny, die ihre Sommerferien bei den Dreharbeiten in Namibia verbringt. Doch das war’s auch schon mit der TV-Karriere. Jennifer Sittler steht noch bei einigen Schulaufführungen und im Theater Rampe auf der Bühne. Mit Anfang zwanzig ist ihr klar, dass sie nicht für die Schauspielerei geschaffen ist. „Ich fand die vielen Wiederholungen, die der Vorstellungsbetrieb mit sich bringt, zu langweilig und zu anstrengend“, erzählt sie.
Jennifer Sittler sitzt im Café Condesa am Marienplatz, mitten in der Landeshauptstadt, trinkt einen Cappuccino, knabbert an einer Butterbrezel und spricht offen über ihr Leben. Die 33-Jährige ist gerade bei ihren Eltern zu Besuch, die im Lehenviertel immer ein Zimmer für ihr ältestes Kind freihalten. Noch ist Jenny offiziell in dem mittelfränkischen Dorf Buckenhof zu Hause, wo sie sich mit zehn Mitbewohnern ein Haus teilt. Doch seit im Sommer ihr Vertrag als Regieassistentin am Theater Erlangen ausgelaufen ist, zieht sie wie eine Vagabundin umher.
Mal besucht sie ihren Liebsten Jan, der in Hamburg als Theatermusiker arbeitet. Mal verbringt sie ein paar Wochen bei ihrer allerbesten alten Schulfreundin Juliette, die sich für ein ruhiges Leben im westfranzösischen Hinterland entschieden hat. Mal fliegt sie zu ihrem Bruder Benedikt, der es in London mit seinem Modelabel-Start-up krachen lässt, mal zu ihrer SchwesterLea-Marie, die in Göteborg kürzlich ihr Debütalbum „Diamonds“ mit neun selbst komponierten Songs veröffentlicht hat. Und mal inszeniert sie in Schwäbisch Gmünd mit der Schauspielerin Sylvie Kern das Ein-Frau-Stück „Die Dame in Rosa“, das sich mit dem Tabuthema Sterben auseinandersetzt und demnächst in Schulen und Hospizen aufgeführt werden soll. „Vielleicht bin ich gerade so glücklich wie noch nie“, sagt Jennifer Sittler. „Ich fühle mich frei und kann mich endlich mit den Dingen beschäftigen, die mir wirklich wichtig sind und die mich voranbringen.“
Vordergründig hat Jennifer, geboren am 17. September 1985 in der anthroposophischen Filderklinik, eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Mit ihren beiden Geschwistern wächst sie in einer Dachgeschosswohnung am Stuttgarter Stadtrand auf, Stoßäckerstraße 81 a. Um die Ecke, im Rosental, liegt das Freibad, wo Jenny mit ihrer Clique viele schöne Teenagersommernachmittage verbringt. Wenn das Herz zwischendrin vor Liebeskummer schmerzt, ist ihre Mutter Sigrid Klausmann stets da, um sie in den Arm zu nehmen.
Klar, ihren berühmten Papa sieht sie oft monatelang nur an den Wochenenden, weil er in Hamburg und Köln die TV-Serien „Girlfriends“ und „Nikola“ dreht. Dafür weiß er es umso mehr zu schätzen, wenn er zwischendrin ein paar Tage bei seiner Familie sein darf. Und weil der Publikumsliebling Walter Sittler für seine Hauptrollen gute Gagen verlangen kann und einen großzügigen Charakter besitzt, bekommen seine Kinder alles, was sie sich wünschen: Saxofonunterricht, Ferien bei der englischen Brieffreundin – oder ein Auslandsschuljahr.
Als Elftklässlerin kommt Jennifer zu ihrer streng mormonischen Gastfamilie nach Pennsylvania in den USA. Zum ersten Mal merkt sie, dass die Menschheit nicht nur aus liberal eingestellten Künstlertypen besteht. „Die oberflächliche Überfreundlichkeit im amerikanischen Alltag hat mich völlig überfordert, weil mir eine wichtige Kompetenz fehlte: Urteilsfähigkeit“, erzählt sie rückblickend. Die Einsamkeit in der Fremde nagt an dem Selbstwertgefühl der damals 17-Jährigen. Bisher war sie eingehüllt in einen Kokon aus Empathie, plötzlich interessiert sich niemand für sie und ihre Gefühlswelt. Als Jennifer nach Stuttgart zurückkehrt, beginnt sie erst einmal eine Psychotherapie.
Nach dem Abitur – Durchschnitt 1,9 – zieht sie nach London, um Art and Design zu studieren: Sie will Modeschöpferin werden, weil sie schon immer gerne genäht hat. Das Grundstudium beendet sie mit einer Topnote – und macht dennoch nicht weiter. Nächstes Berufsziel: Fotografin. Die Ausbildung schmeißt sie nach nur einem Jahr, weil sie das Gefühl hat, dass sie nicht das lernt, was sie lernen will. Ihr damaliger Freund bekommt ihre Launen zu spüren und bleibt ihr dennoch treu – bis sie die Partnerschaft beendet. „Ich habe damals vieles nicht kapiert“, sagt sie.
Die Rolle, die ihre Mutter und ihr Vater für ihre Entwicklung gespielt haben, sieht sie kritisch. Phasenweise ist Jennifer davon überzeugt, dass sie ihre allzu netten Eltern zu einem konfliktscheuen Weichei erzogen haben, weil sie ihr keine Angriffsfläche boten. „Ich habe ihnen vorgeworfen, dass sie das Irrationale oder Böse, das in den Menschen eben auch immer existiert, zu konsequent von mir ferngehalten und mich nicht auf die Konfrontation damit vorbereitet haben“, erzählt sie.
Im Hause Sittler haben sich alle lieb: der Papa die Mama, die Mama den Papa, Mama und Papa die Töchter und den Sohn, und die drei Kinder sich untereinander auch. Man teilt die gleichen Interessen – Theater, Film, Tanz, Literatur, Musik – und vertritt die gleichen politischen Ansichten: Der Staat sollte mehr in Bildung investieren, anstatt Milliarden für einen Tiefbahnhof rauszuschmeißen. Bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 steht Walter Sittler als Redner auf der Bühne, und die restliche Familie beklatscht seine Worte. „Wir haben uns immer in unserer links-grünen Blase bewegt“, sagt Jennifer Sittler.
Längst hat sie sich mit ihren allernächsten Angehörigen ausgesprochen. Heute ist sie ihren Eltern dankbar, dass sie ihr humanistische Werte vorgelebt und jederzeit fest zu ihr gehalten haben. „Wir haben jetzt eine sehr schöne Beziehung, begegnen uns wie erwachsene Freunde“, sagt sie.
2009 schreibt sich Jennifer Sittler in Gießen für Theaterwissenschaften ein. Nach dem Studium arbeitet sie als Bühnenbild-Assistentin in Heidelberg und Regensburg sowie als Regieassistentin in Erlangen. Nun, wo sie auf Mitte dreißig zugeht, will sie nicht mehr die zweite Geige spielen, sondern sich ihren Berufstraum erfüllen: eigene Stoffe für die Bühne entwickeln und inszenieren.
Als Starthilfe hat sie von ihrem Vater kürzlich einen Auftrag bekommen (sie spricht selbstironisch von einer „Beschäftigungstherapie für die arbeitslose Tochter“): die Erzählung „Alte Liebe“ der Bestsellerautorin Elke Heidenreich bühnenreif gestalten. Zurzeit ist Walter Sittler mit dem von seiner Tochter bearbeiteten Stück und seiner Lieblings-Schauspielpartnerin Mariele Millowitsch auf Lesereise.
Jennifer Sittler sagt, ihr sei bewusst geworden, dass sie früher ihrem Glück oft selbst im Weg stand. Niemals wurde sie von ihren Eltern unter Leistungsdruck gesetzt, und doch hörte sie eine innere Stimme, die ihr zuflüsterte: Du musst besser sein als die anderen. „Mittlerweile glaube ich, dass dieses hohe Anspruchsdenken in meinen Genen liegt“, sagt sie.
Diese These hat sie durch Ahnenforschung entwickelt. Ihr GroßvaterEdward Sittlerwar ein brillanter Literaturprofessor – und ein glühender Hitler-Verehrer. 1937 wanderte er von Delaware in den USA in das Deutsche Reich aus, um sich in den Dienst der Nazipropaganda zu stellen. Jennifer Sittler hat die Tagebücher gelesen, in denen er – sprachlich geschliffen – Grausamkeiten formuliert. Seither glaubt sie, dass die Sanftmut ihres Vaters eine Reaktion auf die gnadenlose Ideologie seines Vaters ist – und befürchtet, dass diese dunkle Kraft irgendwo in ihr schlummert.
Sie gräbt immer tiefer. Wühlt sich durch Tausende Seiten Kriegsprotokolle. Spricht mit den letzten Zeitzeugen. Und verarbeitet ihre Recherchen zu einem Drama. Sollte es das Stück irgendwann auf die Theaterbühnen schaffen, dann wird es auch die Selbstfindungsgeschichte von Jennifer Sittler erzählen.