Von 15 bis kurz nach 6 Uhr früh sind die Mitglieder der Biking Nomads unterwegs. Fotos: S. Gerngroß/L. Wiest
Von Matthias Hepper
Backnang. Langsam geht die Sonne über der Ukraine auf. Es ist ein atemberaubend schöner Anblick. Eine leere Autobahn liegt vor uns, die eine flache Landschaft teilt und direkt auf den roten Feuerball zuführt. Jeder von uns sechs Fahrern der zwei Neunsitzertransporter hängt seinen Gedanken nach, sie liegen irgendwo zwischen „Wann sind wir endlich da?“, „Hoffentlich klappt alles“ und „Was erwartet uns wohl?“. Nach rund 1200 Kilometern Fahrt ist es sehr still in unseren beiden Bussen.
Hinter uns Mitgliedern des Backnanger Motorradklubs „Biking Nomads“ liegt eine aufregende Woche. Von der Idee, Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen und Geflüchtete nach Backnang mitzunehmen, bis zum Aufbruch an die polnisch-ukrainische Grenze sind gerade einmal acht Tage vergangen. Man könnte sagen: Ein Wechselbad der Gefühle liegt hinter uns. In diesen acht Tagen lernten wir unsere Vereinsmitglieder und Freunde neu kennen. Wir waren überwältigt von der großen Welle an Hilfsbereitschaft. Ratzfatz hatten wir den geplanten Betrag für die Busmiete, den Treibstoff und die Verpflegung durch Spenden beisammen. Mehr noch: Wir würden sogar unsere zwölf Fahrgäste noch zu einem Frühstück und zu einem Abendessen einladen können. Allein 2800 Euro sind von den Tourenfreunden Biking Nomads zusammengekommen, noch einmal 800 Euro vom MO-Medien-Verlag.
Mit den gespendeten Gütern verlief es ähnlich erfreulich: Anfänglich waren es neun Bananenkartons, doch es dauerte nur wenige Tage, bis die beiden Fahrzeuge völlig überladen waren. Was anfangs überhaupt nicht zu klappen schien, funktionierte plötzlich wie in einem Zeitraffer. Und dann war es auch schon der 18. März, 15 Uhr. Abfahrt in Backnang.
Gute 13 Stunden später rauschen wir etwa 30 Kilometer vor dem polnischen Grenzdorf Medyka dem Sonnenaufgang entgegen. Schön. Eigentlich. Wir fahren bis zum Ende der Autobahn, bis zur Sperre. Dann weist uns ein Schild den Weg zur Auffangstation für die vor dem Krieg geflüchteten Frauen und Kinder, die gleichzeitig Verteilstelle der Hilfsgüter ist. Hunderte ukrainischer Lastzüge stehen dort bereit. Es ist kurz nach 6 Uhr früh, wir sind die Ersten an der Entladerampe. Plötzlich geht alles schnell. Die polnische Nationalgarde wirkt wie eine Dose Red Bull auf unser übermüdetes Häuflein. Auf einmal sind zahlreiche Gardisten zur Stelle. Mithilfe von Paletten und Hubwagen sind unsere Busse in Windeseile leer.
Ob wir Leute mitnehmen wollen, werden wir gefragt. „Ja.“ Und schon führt uns einer der Soldaten durch das riesige Einkaufszentrum zum Schalter der Polizei, die unsere Daten aufnimmt. In den Läden der Shopping Mall stapeln sich fein sortiert die Hilfsgüter und warten auf den Abtransport. Dicht an dicht stehen in allen Gängen und Plätzen in diesem Zentrum Liegestühle mit Decken. Darauf sitzen Frauen und Kinder. Manche schlafen, manche hocken einfach nur da und starren ins Leere. Es ist ein Anblick, der uns zu Tränen rührt. Wir spüren die Mischung aus Angst, Anstrengung, traumatischen Erlebnissen und bodenloser Verzweiflung. Das Leid liegt wie eine alles erstickende Decke über diesen Menschen. 5000 Menschen sind hier vorübergehend untergebracht. Kinder, vom Säugling bis zum Jugendlichen. Und alle sind still. Der Polizist gibt einen Zettel an eine Kollegin weiter, die über Lautsprecher in diesen grotesken Geisterbahnhof „zwölf Plätze nach Stuttgart, Deutschland“ hineinruft. Verunsichert sammeln sich einige Mütter um uns, fragen: „Wie? Wohin?“ Misstrauen. Die Szenerie wirkt surreal auf uns – weit über die Grenze des Erträglichen hinaus. Die Männer und Väter müssen in ihrem Land bleiben, kämpfen im Krieg; die Mütter und Kinder müssen sich mit völlig Fremden auf den Weg machen in eine Stadt, deren Namen sie nie gehört haben.
Wir fahren. Sieben Frauen und fünf Kinder haben wir mitgenommen. Kaum sind wir auf der Autobahn, muss sich ein sechsjähriger Junge übergeben. Ein anderer kann nicht aufhören zu essen. Ansonsten ist es still. Es ist zum Heulen. Trotzdem kommen wir „Biking Nomads“ allmählich ins Reden, scherzen miteinander. Wie die Kilometer vergehen, steckt unser Gequatsche die Menschen aus der Ukraine an. Obwohl sie kein Wort verstehen, verbessert sich die Stimmung. Erst recht, als die Familien in Backnang unglaublich herzlich von ihren Gastgebern empfangen werden. Plötzlich fällt alles von ihnen ab: Die Angst weicht, die Verzweiflung ist verflogen. Sie sind angekommen. Ihre Reise hat vorerst ein Ende. Ihre Straße nach Nirgendwo hat sie zu rührend netten Familien gebracht. Auch wir sind mehr als dankbar, dass alles geklappt hat – auch für alle, die uns mit Spenden oder ermunternden Kommentaren unterstützt haben. Und wir haben beschlossen: Wir werden wieder fahren – vom 8. bis zum 9. April, dieses Mal sogar mit drei Bussen. Vorab sind Spenden willkommen.
Geldspenden Die Gemeinschaftsschule des Bildungszentrums Weissacher Tal (Bize) sammelt Geldspenden über das Konto des Motorradklubs Biking Nomads. Weitere Infos findet man unter www.biking-nomads.de.
Sachspenden Hilfsgüter werden vom Gymnasium des Bize entgegengenommen. Abgeben kann man die Sachspenden am Donnerstag, 7. April, im Raum 5.19 in den Pausen. Es wird darum gebeten, die Hilfsgüter in Kartons zu packen, diese aber noch nicht zuzukleben, damit der Inhalt gegebenenfalls umgepackt werden kann. Die Fahrzeuge der Biking Nomads werden von 17 Uhr an am Haupteingang des Bize beladen. Sachspenden können auch zu den Öffnungszeiten der Firma Heinz-Autovermietung (Spritnase) abgegeben werden (9 bis 11.30 Uhr sowie 14.30 bis 16 Uhr). Gebraucht werden vor allem Verbandsmaterialien, Schmerzmittel, Windeln, Babynahrung, Batterien, Fertigsuppen, Nahrung in Dosen. Bekleidung wird nicht benötigt!
Spielzeug Matthias Heppers Tochter in der Grundschule in Sechselberg sammelt Spielsachen.
Unterkünfte Was noch dringend gesucht wird, sind private Unterkünfte für die Geflüchteten, die die Biking Nomads mit nach Deutschland bringen. Sechs Personen wurden bereits untergebracht, Plätze für 13 Personen werden noch gesucht. Die genaue Aufteilung, also wie viele Menschen zusammengehören, kann erst nach der Abfahrt an der Grenze kommuniziert werden.