Zwischen Aufregung und Verantwortung

Die AfD scheitert im Bundestag zum sechsten Mal damit, einen Vizepräsidenten durchzusetzen

Von Wolfgang Molitor

Der Platz der AfD im Bundestagspräsidium bleibt leer. Einer großen Mehrheit der Abgeordneten ist es egal, was die Geschäftsordnung des Parlaments sagt, die jeder Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten zuschreibt. Überraschend viele Abgeordnete erteilten der AfD-Kandidatin Mariana Harder-Kühnel auch im dritten Anlauf eine Abfuhr, und nichts lässt vermuten, dass sich daran – sollte es zu Wahlgängen mit anderen Kandidaten kommen – etwas ändern könnte, dass irgendein anderer, irgendeine andere aus der AfD-Fraktion in absehbarer Zeit eine Chance bekommen sollte, den Kreis der fünf Schäuble-Stellvertreter zu erweitern.

Dabei hatte es im Vorfeld zarte Versuche aus Union und FDP gegeben, nach der Ablehnung des AfD-Abgeordneten Albrecht Glaser in drei Wahlgängen und den gescheiterten zwei Anläufen Harder-Kühnels dem Treiben ein Ende zu setzen. Fraktionschef Ralph Brinkhaus hatte – wie FDP-Chef Christian Lindner – im Vorfeld ungewöhnlich deutlich für die Unterstützung Harder-Kühnels geworben und sein persönliches Ja publik gemacht. Michael Grosse-Brömer, als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion ebenfalls ein politisches Schwergewicht, nannte Mariana Harder-Kühnel sogar „sicherlich eine gemäßigte Kandidatin“ – auch wenn danach prompt anonymes Getuschel aus namentlich nicht genannten AfD-Reihen medial gestreut wurde, wonach ihr eine enge Verdrahtung mit dem vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuften Höcke-„Flügel“ nachgesagt wird.

Dabei geht es im Hohen Haus gar nicht mehr um Personen. Es geht um eine fragwürdige Symbolpolitik, die sich selbst gegebene Regeln außer Kraft setzt, um der AfD nur eines zu zeigen: Abscheu und Empörung. Doch es ist die Frage, ob diese Ausgrenzung wirklich von politischer Reife spricht. Natürlich steht es jedem Abgeordneten, gleich in welcher Fraktion, frei, nicht für einen Kandidaten zu stimmen, dessen Partei die Würde des Parlaments mehr als einmal egal war – eine Würde, die das Bundestagspräsidium laut Geschäftsordnung zu schützen und zu wahren hat. Doch gerade im Bundestagspräsidium, in einem höchst repräsentativen Amt, hätte die AfD – entgegen vielen ihren Auftritten und Beiträgen – ein lupenreines Bekenntnis zu einem Parlamentarismus ablegen müssen, auf dessen demokratischem Fundament dieser Staat steht. Wer AfD-Vertretern nicht den Vorsitz wichtiger Bundestagsausschüsse verwehrt, sollte sich genau überlegen, ob es sich auf Dauer auszahlt, eine ehrenwerte Symbolik über eine unverzichtbare parlamentarische Funktionalität zu stellen.

Eine ehrliche Empörung allein taugt jedenfalls nicht als dauerhaftes Bollwerk gegen jene rechtsradikalen Kräfte, die in der AfD-Fraktion nachweislich ihr braunes Süppchen zu kochen versuchen. Niemand muss sich mit der AfD arrangieren. Sie ist im Bundestag eine dunkle Stelle und bleibt es in großen Teilen wohl auch noch länger. Aber mit einer generellen Ausgrenzung machen es sich die anderen Fraktionen zu einfach. Der Kampf gegen viele demokratisch unerträgliche AfD-Positionen lässt sich nicht mit plumpem Boykott gewinnen.

Der AfD wird die Mauer der Ablehnung ebenso wenig schaden wie 2005 der Linkspartei das viermalige Scheitern Lothar Biskys. Sein Ersatz, Petra Pau, ist heute die dienstälteste Vizepräsidentin. Und dass die Grünen nach ihrem Einzug in den Bundestag elf Jahre warten mussten, bis sie 1994 erstmals den Posten einer Stellvertreterin besetzen konnten, ist heute nur eine parlamentarische Randnotiz. Die AfD hat Zeit. Ganz frei von Verantwortung.

wolfgang.molitor@stuttgarter-nachrichten.de