Spoken Arts Festival
Abend über Nachkriegsschicksale und das N-Wort
Ein All-Star-Ensemble mit Peter Kurth, Albrecht Schuch, Wolfram Koch, Ricky Watson und Mavie Hörbiger bringt die „Wundersame Wandlung“ in den Mozartsaal – und damit eine aktuelle Debatte ins Stuttgarter Spoken Arts Festival.
Von Roland Müller
Begriffe, die diskutiert werden, sollte man beim Namen nennen. Zumindest ein einziges Mal, selbst wenn es uns heute schwerfällt, sie auszusprechen, weil sie die Würde des Menschen verletzen. Das N-Wort gehört dazu, das rassistische Unwort „Neger“, das Menschen mit dunkler Hautfarbe zu Untermenschen erklärt und – auf Worte folgen Taten – den Boden bereitet für Ausgrenzung und womöglich Auslöschung.
Wie aber geht man mit dem N-Wort um, wenn es in historisch gewordenen Texten verwendet wird?
Die Vorrede ist notwendig, weil das N-Wort auch beim dritten Stuttgarter Spoken Arts Festival eine Rolle spielt. Der Reigen der Veranstaltungen widmet sich Nachkriegsdeutschland – und in einem der wichtigsten Romane dieser Zeit, Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“, wird es etwa hundertmal verwendet, was im vergangenen Jahr zur Debatte führte, ob dieses Buch Abi-Lektüre in Baden-Württemberg werden sollte. Ins Festival-Programm hat es Koeppens Kaleidoskop einer orientierungslos taumelnden Gesellschaft jedenfalls geschafft, in die literarisch-musikalische Collage „Wundersame Wandlung“ des Sagas-Ensembles, dessen Leiter Martin Mühleis in der Begrüßung seinen Standpunkt in der Debatte erläuterte.
Rassismus und Schicksale von Nachkriegsmenschen
Man würde, sagte der Sagas-Chef im Mozartsaal, die im Roman auftretenden Rassisten schützen, würde man das nur von ihnen benutzte N-Wort heute aus dem Text tilgen. Koeppen selbst habe sich das Wort nicht zu eigen gemacht, sondern es Unbelehrbaren in den Mund gelegt, die auch im Völkermord an den Juden kein Verbrechen sahen. Und Mühleis hat recht, wie die vorgelesenen Romanauszüge bewiesen. „Die Meute wollte schon losschlagen, aber es fehlte ein Führer“, lässt der von Peter Kurth gespielte Erzähler verlauten, bevor der Mob, der sich im Bräuhaus in Stimmung gesoffen hat, den Jazzclub der amerikanischen GIs stürmt und Jagd auf die weiße Carla, gesprochen von Mavie Hörbiger, und den schwarzen Washington macht – ihn sprach und verkörperte der afroamerikanische Schauspieler Ricky Watson.
„Tauben im Gras“ von 1951 ist nicht der einzige Roman, aus dem an diesem Abend gelesen wird. Verknüpft ist er mit zwei anderen, des Rassismus und sonstiger Diskriminierung unverdächtigen Werken der Nachkriegsliteratur, „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf (1963) und „Stiller“ von Max Frisch (1954). Ein Triptychon, das uns mit Schicksalen von Nachkriegsmenschen vertraut macht, mit ihrer Verlorenheit, Melancholie, Freiheitssehnsucht – und überhaupt mit dem Zeitgeist jener Epoche in Ost und West, bis der Mauerfall die deutsche Teilung zementierte. Letzteres lässt sich im Christa-Wolf-Roman nachlesen, dem der einzigartige Albrecht Schuch seine warme Stimme leiht: Die Liebe von Rita und Manfred überlebt die Zeitläufte nicht, auch wenn er glaubt, dass man – anders als ein Land – den Himmel nicht zerteilen könne. Sie denkt und erwidert: „Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? Doch, sagte sie leise, der Himmel teilt sich zuallererst.“
Cool Jazz als Kitt für die Lesung
Schuch sitzt auf einem Barhocker am Bühnenrand, vor sich ein Lesepult mit Leselampe wie die anderen Künstler des Abends auch, Kurth, Hörbiger, Watson. Als Fünfter im Bund des All-Star-Ensembles aus Film und Theater gesellt sich der kurzfristig für den erkrankten Christian Brückner eingesprungene Wolfram Koch hinzu, der mit sparsamer Gestik und präziser Diktion den Helden von Frischs Roman, den namensgebenden Stiller, beim Ringen um seine wahre Identität begleitet.
Sie entspricht nicht derjenigen, die ihm von außen zugeschrieben wird – und so unterschiedlich die drei ikonischen Nachkriegsromane auch sind, so schärften sie im Mozartsaal doch das Bild der zerrütteten fünfziger Jahre, wobei der von Joo Kraus, Veit Hübner und Torsten Krill beigesteuerte, an Miles Davis orientierte Cool Jazz als vorzüglicher kulinarischer Kitt der musikalischen Lesung diente.
Offen, als Wunde, blieb nur eines: die Debatte um das N-Wort, zu der das Stuttgarter Spoken Arts Festival mit der „Wundersamen Wandlung“ einen konstruktiven Beitrag leistete.