Architektur in Stuttgart
Die Rettung eines einzigartigen Architekturjuwels
Engagierte Anwohner fischen Trümmerreste eines berühmten Stuttgarter Gartenpavillons aus dem Müll. Könnte das einst reich verzierte Bauwerk in neuem Glanz erstrahlen? Ja, sagt ein erstaunlich hartnäckiger Architekturstudent. Ein Besuch vor Ort.
Von Nicole Golombek
Manchmal wird Architektur nur durch einen beherzten Sprung in den Abfallcontainer gerettet. Natürlich erst nach Sonnenuntergang. Beim Blick vom Balkon seiner Wohnung in der Stuttgarter Alexanderstraße verfällt der Sänger Matthias Rexroth schier in Schockstarre: Arbeiter, nicht zimperlich, traktieren den fast vier Meter hohen Pavillon im Garten seines Nachbarn Eytan Pessen, der direkt neben seinem eigenen Garten liegt. Sämtliche ornamentreiche Seitenteile, maurisches Schnitzwerk, Pfosten und Streben, das Dach – alles landet im Mai 2009 in Abbruchcontainern.
„In der Nacht haben wir dann die noch halbwegs erhaltenen, nicht demolierten Teile aus dem riesigen Container gefischt“, berichtet Matthias Rexroth 15 Jahre später nach dieser architektonischen Rettung am Tatort. Sichtlich gut gelaunt erinnert sich Rexroth, wie er und Eytan Pessen die Teile im Keller ihres Hauses gesichert und bis zum Herbst 2023 verwahrt hatten. Sie sind Pächter der nebeneinander liegenden historischen Gartenanlage, die ebenso wie der Pavillon dem Land Baden-Württemberg gehören, der auch den Abbruch angeordnet hatte.
Feiner Pavillon im Hanggarten einer Stadtvilla
Die beiden Großcontainer standen damals auf der Gaisburgstraße, die von ihrer Einmündung am oberen Teil der Alexanderstraße bis zum Olgaeck nahe des Charlottenplatzes führt. „Auf diesem Weg ist schon Friedrich Schiller 1782 aus Stuttgart geflohen“, sagt Rexroth. Ziemlich sicher jedenfalls.
Ganz sicher ist: Damals gab es noch keinen Pavillon. Den hat der Stuttgarter Werkmeister Wilhelm Brenner (1826-1879) auf dem höchsten Punkt des Gartens erst 1866 errichtet. Das Grundstück am Steilhang ist so groß, dass es bis in die Stadtmitte, zur Olgastraße 3 führt, der repräsentativen Stadtvilla, ebenfalls von Brenner entworfen. Sie steht gegenüber des Landgerichts.
Schiller oder nicht, es ist ein inspirierender Ort. Bevor Matthias Rexroth das schmiedeeiserne Gartentörchen aufschließt, zeigt er auf den Garten hinter der Sandsteinmauer. Dort ist gerade nichts zu sehen außer dem diesig grauen Herbsthimmel. Was sich bald ändern könnte. Das wiederum hat mit der Liebe des Architekturstudenten Simon Otto Volk zu Gartenanlagen und alten Gebäuden zu tun.
„Von unserer Wohnung schräg oberhalb des Gartens blickte ich jeden Tag auf das Kleinod hinab und bewunderte die mir damals noch unbekannte Person, die sich mit so viel Hingabe und Leidenschaft dem Garten gewidmet hat“, sagt der 29-Jährige. „Es gibt ja nicht mehr viele historische Gärten aus der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die so gut erhalten sind wie dieser. Da habe ich ihm meine Publikation über die Villa Moser, einer vergessenen Gartenanlage aus den 1870er Jahren in Stuttgart, unters Gartentor geschoben. Und so entwickelte sich der Kontakt zu Matthias.“
Irgendwann kam die Rede auf den geretteten Pavillon. Simon Otto Volk begann zu recherchieren. Wie seine Broschüre über das Projekt zeigt, hat er sich bewundernswert tief in die Stadt- und Architekturgeschichte eingearbeitet. Er vergrub sich in Archiven, entzifferte mittels Computersoftware Texte in Sütterlinschrift, analysierte Bauakten, las Bücher über Ornamentik.
Und er sortierte all die Einzelteile des Pavillons. Es sind Fragmente von vier Seiten-Elementen sowie der zentrale Dachpunkt erhalten. Der Pavillon war ein Belvedere, bot eine schöne Aussicht. „Man blickte auf die ganze Stadt“, sagt Simon Otto Volk. Und die Stadt blickte zurück.
Christian Septimus von Martens (1793-1882), Sohn des königlich-dänischen Generalkonsuls von Venedig, verschlug es nach Stuttgart, wo er zuweilen Stadtansichten fertigte. Volk präsentiert einen kuriosen Fund: „Der Blick über die Wäscheleine des roten Hinterhauses der Olgastraße 7 zeigt nach derzeitigem Kenntnisstand den einst weißen Pavillon.“
Die Zeichnung, ebenso wie frühe Fotografien, zeigen: der heute komplett bebaute Hügel oberhalb der Alexanderstraße und des Eugensplatzes war damals einfach nur grün. Weinreben, Wiesen, Obstbäume. Einziges Gebäude: das Kanonenhäusle, heute versteckt es sich hinter repräsentativen Villen und Mehrfamilienhäusern.
Wenn die Gartenbesitzer damals im Pavillon saßen und Tee tranken, blickten sie auf Blumen, Obstbäume, wie einer der Hausbesitzer, der Göppinger Korsettfabrikant und Kassier des Württembergischen Obstbauvereins in Stuttgart, Albert Herz, 1892 säuberlich notierte: „Kirschenblüte dauerte lange. Der Ansatz ist bis jetzt befriedigend. Aprikosen haben etwas rascher verblüht und ordentlich angesetzt. Pfirsiche sehr wenig“.
Der Fabrikant und Obstfreund schaute damals aus der Beletage in der Stuttgarter Olgastraße auf seinen Garten am Steilhang. Und er war offenbar auch schwindelfrei. Ein Steg führte vom Balkon des ersten Stocks über das Hinterhofgebäude bis in den Garten hinein, berichtet Simon Otto Volk beim Gang durch den Garten bis zur Olgastraße hinunter. Die Schilfsandsteinstäffle sind zum Teil fast in den Boden abgesunken, der die Pächter Rexroth und Pessen haben sie in mühevoller Arbeit vom Moos befreit.
Fast 120 Jahre später blüht es weiterhin im Garten, sogar eine letzte Feige und einen kleinen Apfel zupft Rexroth vom Baum. Doch der Pavillon war, wie Fotos dokumentieren, die Volk später, nach dem Gartenbesuch, in einer Wohnung am Computer zeigt, mit Brettern zugenagelt. Er sah ziemlich mitgenommen aus. „In dem Pavillon wurde Feuer gemacht, und womöglich wurden Gartenabfälle verbrannt“, vermutet Simon Otto Volk. Als er Holzteile unter dem Mikroskop untersuchte, entdeckte er Rußpartikel auf der aufgeschmolzenen ochsenblutroten Farbschicht, darunter kam stellenweise die weiße und erste Farbfassung zum Vorschein.
Akribische Rekonstruktion
Was Volk noch erforscht hat: „Der Pavillon als Schmuckstück des Gartens war ein Meisterwerk, der sich von vergleichbaren Gartenpavillons der Zeit deutlich abhob. Sehr fein gestaltet, ebenso übrigens wie die antikisierende Fassade am Haupthaus der Olgastraße 3.“ Details an der Hausfassade, an den Glasmalereien im Treppenhaus, finden sich auch beim Pavillon.
Die Ornamentik des Pavillons hat Volk wissenschaftlich untersucht. Das geschwungene Ranken-Ornament mit Blüten und Blättern, die Arabeske, mit den historischen Vorbildbauten, der Alhambra in Granada etwa, verglichen und interessante Parallelen festgestellt. „Auch da wurden im unteren Bereich geometrische Muster verwendet, weiter oben bei den Rundbögen dann vegetabilere Ornamente. Zudem greift die Kontur der innen liegenden Rundbögen mit den abgerundeten Konsolen Fenster- und Arkadenformen der Alhambra auf“, erklärt der angehende Architekt.
Beim Recherchieren ist es nicht geblieben. Volk will bauen, dem Alten etwas Neues hinzufügen. Er rekonstruierte den Pavillon mit detektivischer Akribie. Auf einem Seitenpfosten fand er die Kontur eines nicht mehr vorhandenen Bauteils und konnte es so rekonstruieren. Der Dachaufbau war nicht überliefert, da wird es spannend: Wie waren die horizontalen Abschlussleisten gearbeitet? Welche Form hatten die Dachbalken? Volk: „Hier entschied ich mich für eine harmonisch zurücknehmende Gestaltung.“
Der Nachbau eines kompletten Seitenteils hat Simon Otto Volk sich gemeinsam mit seinem Kommilitonen Fabian Schwarz (24) als Uni-Projekt schon vorgenommen, die Stuttgarter Firma Holz Ulrich hat das Holz gesponsert. „Rund 400 Arbeitsstunden“, schätzt Fabian Schwarz, haben sie in der Holzwerkstatt der Universität Stuttgart in der Keplerstraße verbracht. „Die Werkstattleiter und insbesondere Michael Schneider, der das Projekt als stattlich geprüfter Restaurator stetig begleitet hat, haben uns sehr viel geholfen“, sagt Simon Otto Volk.
Nachbau eines Pavillonelementes
Es wurde gemessen, gesägt, gehobelt, geschliffen, es wurden Schablonen für die rote Umrandung des weiß gestrichenen Holzteile ausgelasert. „Man lernt viel über Bauforschung und historische Fertigungsweisen“, sagt Fabian Schwarz. Bei dem einen Seitenteil soll es nicht bleiben, der Pavillon soll in Gänze wieder hergestellt und möglichst an seinen alten Platz in den Garten gebracht werden. „Nun hoffen wir noch auf positive Signale zum Wiederaufbau von den Eigentümern des Gartens, Vermögen und Bau Baden-Württemberg“, sagt Simon Otto Volk.
Auch die Professorin vom Institut für Architekturgeschichte, Christiane Weber, unterstützt das Projekt: Wenn sich jetzt noch großzügige Sponsoren für das Projekt finden, könnten in den nächsten Semestern Volk, Schwarz und Mitstudierende die restlichen Teile nachbauen und eine Menge praktische Erfahrung sammeln. Simon Otto Volk: „Es geht ja immer öfter darum, im Bestand zu arbeiten und Verständnis für Material und Konstruktion zu erlangen.“
Das wäre dann der Lerneffekt für die Studierenden. Wenn das Land als Gartenbesitzer das Aufstellen des Pavillons erlaubt, wird es es zudem einen Vergnügungseffekt für Flaneure geben: Sie könnten beim Stadtspaziergang an einem reizenden Belvedere entlang gehen. Und vielleicht fänden sich heute auch Dichterinnen und Dichter, die nicht die Stadt fliehen wollten, sondern diesen inspirierenden Ort besingen.
Weitere Bilder vom Pavillon und dem Aufbau in der Bildergalerie.
Info
PavillonDas Wort bedeutete im Spätlateinischen auch Zelt, hat Simon Otto Volk recherchiert. „Im 11. Jahrhundert taucht das lateinische Wort im mittel- und süddeutschen Raum als „pavelun(e)“ oder „pavilun(e)“ auf, das ebenfalls mit Zelt übersetzt wurde. Um 1600 hatte das aus dem französisch entlehnte Wort „Pavillon“ die Bedeutung Kriegs- und Schutzzelt.
ArchitektDer Werkmeister Wilhelm Brenner lebte von 1826 bis 1879, er ist auf dem Stuttgarter Pragfriedhof beerdigt. Brenners „Familie in Stuttgart lässt sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen“, so Simon Otto Volk. „Die Brenners gehörten der Gilde der Pflästerer (Pflasterer, Steinsetzer) an und waren seit jeher eng mit dem Baugewerbe verknüpft.“ Er hat einige Gebäude in Stuttgart entworfen, manche sind noch erhalten und stehen unter Denkmalschutz.
AusstellungDie Universität Stuttgart, Keplerstraße 11, zeigt bis 22. November eine Ausstellung des Pavillons. Öffnungszeiten: Mo bis Fr 7-21 Uhr, Wochenende 9-18 Uhr. Anmeldung zu kostenfreien Führungen: simon.volk@ifag.uni-stuttgart.de