John Neumeier über „Anna Karenina“
„Mein Ballett steht für alles, was dem russischen Regime nicht passt“
John Neumeiers Ballett „Anna Karenina“ tanzt vom 14. März an in Stuttgart. Sein Stück kreise um den Konflikt, was Männern und was Frauen erlaubt ist, sagt der Choreograf im Gespräch.

© Roman Novitzky/Roman Novitzky
John Neumeier (rechts) probt sein Ballett „Anna Karenina“ in Stuttgart.
Von Andrea Kachelrieß
Kurz vor der Premiere seines Balletts „Anna Karenina“ sind John Neumeiers Tage in Stuttgart lang. Da der Choreograf auch für Bühnenbild, Licht und Kostüme verantwortlich ist, folgt eine Probe auf die nächste. Trotzdem findet der 86-Jährige die Energie für ein Gespräch am Abend.
Herr Neumeier, 800 Seiten, viele Handlungsstränge – wie lange haben Sie gebraucht, um Tolstois „Anna Karenina“ in 2,5 Stunden Tanz zu packen?
Die englische Übersetzung ist sogar noch dicker. Ich habe mir eine ganze Spielzeit genommen, um das Stück zu choreografieren. Davor war wie immer bei einem so großen Ballett viel Recherche und das Nachdenken über die Struktur und die Musikauswahl. Das Wichtigste dabei ist, dass ich nicht mit Tolstois Text in die Probe gehe, sondern dass er davor schon ein Teil von mir geworden ist.
Warum?
Weil ich nach einer gegenwärtigen Parallele zu dem Text suche, nicht nach einer Kopie. Dafür ist die Arbeit im Ballettsaal entscheidend. Was macht die Tänzerin, damit ich die Gegenwart einer Figur spüren kann? Choreografie ist immer eine Erfindung von Gegenwart, keine Beschreibung der Vergangenheit.
Es gibt viele starke Frauenfiguren im Stuttgarter Ballettrepertoire. Passt Ihre Anna Karenina dazu?
Ja, sie ist eine sehr starke Frau, weil sie ihre Passionen lebt und zu ihnen steht. Sie tut, was sie in sich spürt. Das macht sie zur Frau, die sie ist. Sie gibt nichts vor, da ist nichts Artifizielles. Interessant ist, dass nur 40 Prozent des Romans von ihr handeln. In „Anna Karenina“ geht es vor allem um Varianten von Familienleben; auch Dolly und Kitty sind auf ihre Weise starke Frauen.
„Inspiriert von Leo Tolstoi“ lautet der Untertitel Ihres Balletts. Was hat Sie an diesem Stoff gereizt?
Eigentlich hat mich dieser Stoff nie gereizt. Die filmischen Umsetzungen, die ich gesehen hatte, waren eher Soap Operas und die Ballette historische Kostümstücke mit zu viel Distanz. Zu meiner „Anna Karenina“ kam es dann so: In Moskau hatte mir Swetlana Sacharowa, mit der ich „Die Kameliendame“ einstudiert hatte, gesagt, dass sie gern die Hauptrolle in meinem Ballett „Tatjana“ tanzen würde. Ich antwortete, dass diese Rolle nicht zu ihr passe. Spontan fiel mir für sie Anna Karenina ein. Die Begegnung mit einem lebendigen Menschen hat mich also inspiriert.
Hat Sie auch das dazu bewogen, Tolstois Roman in die Gegenwart zu versetzen? Sie machen aus Anna Karenina eine Politikergattin, die zum Handy greift…
Als ich mich auf Tolstois Welt eingelassen hatte, war ich überrascht von der Relevanz des Textes und von seiner vielschichtigen, episodischen Art zu erzählen. Tolstoi hat keinen historischen Roman geschrieben, sondern einen über Menschen in seiner Zeit. Die einzige Möglichkeit, diese Geschichte zu erzählen, muss in unserer Gegenwart spielen. Es bleibt ein Konflikt darüber, was einem Mann erlaubt wird und was einer Frau. Ein verheirateter Mann kann eine Affäre nach der anderen haben und ist immer noch eine sympathische Figur wie Stiwa im Roman. Anna Karenina als eine solche Frauenfigur ist nach wie vor ein wichtiges Thema. Was kann eine Frau sich erlauben?
Sie würden sagen, dass sich seit Tolstoi gar nicht so viel für Frauen verändert hat?
In anderen Bereichen schon, in diesem nicht. Ein Beispiel: Von einem Mann sagt man, er sei ein Womanizer. Und eine Frau – ein Manizer? Da wird das zu einer eher negativ besetzten Qualität. Es gibt natürlich Gesellschaftsbereiche, die liberaler sind. Aber eine Politikergattin steht im Fokus der Aufmerksamkeit: Anna ist eine schöne Frau, sie weiß, wie sie sich vor einer Kamera geben muss. Das ist für ihren Mann Karenin ein Vorteil, aber was hat sie selbst davon?
„Anna Karenina“ ist eine Koproduktion mit dem kanadischen Nationalballett und dem Bolschoi-Theater. Vor einem Jahr hatten Sie trotz der Boykotte gegen Russland grünes Licht gegeben für Aufführungen in Moskau. Warum?
Mein Ballett, das auch aktuell in Moskau getanzt wird, steht für all das, was diesem Regime nicht passt: Es ist von einem homosexuellen Amerikaner, der Frauen als sehr stark darstellt.
Versteht das Moskauer Publikum das?
Die Bolschoi-Pressesprecherin, eine gute Freundin, die leider entlassen wurde, schickt mir nach wie vor Videos vom Schlussapplaus. Das Ballett kommt sehr gut an, besonders auch die Lieder von Cat Stevens. Und die Suche dieses Musikers nach einem Sinn fürs Leben steht ebenfalls für absolut andere Werte, als es Putin tut. Diese Musik passt für mich perfekt zu Lewin. Er ist wie Cat Stevens, der zum Islam konvertierte und sogar seinen Namen änderte, ein Gott suchender Mensch.
Sie sind nicht mehr Direktor in Hamburg und arbeiten bei der Kompanie, bei der Ihre Karriere als Tänzer begann. Wie fühlen Sie sich?
Manche Orte in Stuttgart bringen Erinnerungen zurück; in der Urbanstraße war zum Beispiel meine erste Wohnung. Aber meine Arbeitstage hier sind so intensiv, dass nicht viel Zeit für Sentimentalität bleibt.
Hoffentlich haben Sie nach dem Stuttgarter Marathon eine Pause eingeplant?
(Lacht) Nein. Als ich als Ballettdirektor aufhörte, habe ich sehr viele Aufträge angenommen, sodass ich eigentlich ständig unterwegs bin. Nach der Premiere werde ich einen Tag in Hamburg sein, dann fliege ich nach Korea, um mit Sue Jin Kangs Kompanie „Die Kameliendame“ vorzubereiten. Anschließend bin ich mit dem Hamburg Ballett in Peking; von dort geht es nach Sydney, um mit dem Australian Ballet „Nijinsky“ einzustudieren.
Hätten Sie da noch Zeit für ein neues Handlungsballett?
Das muss sich zeigen. Für ein solches Stück brauche ich auch Ruhe. Als Ballettdirektor war ich weniger unterwegs, da konnte ich abends konzentriert arbeiten; in einem Hotelzimmer ist das schwieriger. Ihre Frage kann ich nicht beantworten, weil ich mich in einem experimentellen, ersten Jahr befinde. Angebote für ein neues Handlungsballett habe ich viele. Auch Ideen, aber die will ich nicht verraten.
Info
Künstler1939 in Milwaukee geboren, war John Neumeier von 1963 bis 1969 Tänzer in Stuttgart. Nach drei Jahren als Ballettchef in Frankfurt übernahm er 1973 das Hamburger Ballett, das er bis 2024 leitete. Für das Stuttgarter Ballett hat er nach John Crankos Tod „Die Kameliendame“ (1978) und „Endstation Sehnsucht“ (1983) choreografiert.
StückUraufgeführt wurde Neumeiers Ballett „Anna Karenina“ am 2. Juli 2017 in Hamburg. Getanzt werden seine zwei Akte zu Musik von Peter Tschaikowsky, Alfred Schnittke und Cat Stevens /Yusuf Islam. Das Bühnenbild für die Stuttgarter Aufführungen kommt vom kanadischen Nationalballett.
TerminDie Premiere von „Anna Karenina“ findet am 14. März, 19 Uhr, im Opernhaus statt. Das Stuttgarter Ballett tanzt insgesamt elf Vorstellungen bis zum 17. Mai. Für alle gibt es nur noch Restkarten.