Neu im Kino: „Sing Sing“
Oscar-nominierter Film jetzt im Kino
Greg Kwedars Oscar-nominiertes Gefängnis-Drama „Sing Sing“ ist ein echter Glücksfall.
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© dpa/Dominic Leon
Szene aus „Sing Sing“
Von Kathrin Horster
Von wegen „Land der Freien“ – die USA sind auch für ihre rigorose Rechtsprechung und Hochsicherheitsknäste wie Alcatraz oder Sing Sing legendär. Beide dienten im Kino immer wieder als Drohkulissen, sich ja nicht von Moral und Gesetz abzuwenden. Bis heute sitzen etwa 2300 Häftlinge in Sing Sing ein, oft lebenslang.
Wie halten Menschen das Dahinvegetieren hinter Gittern aus, wie gestalten sie die eintönigen Tage zwischen Aufschluss, Mahlzeiten, Hofgang und Einschluss? Welche Hoffnungen und Erwartungen gibt es noch, wenn ein Schuldspruch auf zweimal 25 Jahre lautet? Solchen Fragen geht das für bei der kommenden Oscar-Verleihung in drei Kategorien nominierte Drama „Sing Sing“ auf den Grund. In seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm porträtiert Greg Kwedar die Arbeit einer Theatergruppe in Sing Sing, die auch in der Realität seit 1996 unter dem Motto „Rehabilitation durch Kunst“ Inhaftierten neue Perspektiven zu erschließen versucht.
Shakespeare im Knast
Kwedars Geschichte über den zu Unrecht wegen Mordes verurteilten Schriftsteller John „Divine G“ Whitfield (Colman Domingo), der in Sing Sing Stücke schreibt und mit anderen Häftlingen Shakespeare probt, fußt auf Tatsachen. Kwedar arbeitet sowohl mit Profis wie dem hervorragenden Colman Domingo als auch mit Laien, die den Haftalltag aus eigener Erfahrung kennen.
Im Film trifft der intellektuelle Divine G auf den Ex-Gangster Clarence „Divine Eye“ Maclin (gespielt von ihm selbst), der sich bisher durch sein rücksichtsloses Auftreten einen Namen gemacht hat, nun aber für die Rolle des Prinzen Hamlet vorspricht. Unter der Regie von Brent Buell (Paul Raci) arbeiten die Männer nicht nur an ihren Rollen, sondern auch an ihrem Verhalten untereinander.
Für die Verbrechen der Männer interessiert sich Greg Kwedar kaum, zentral ist deren oft hoffnungslose Lage in einem Justizsystem, das Straftäter hauptsächlich wegschließt, anstatt in ihnen auch Menschen zu sehen, die jenseits des Schuldspruchs eine Chance auf Resozialisierung verdienen. Man kann monieren, dass Kwedar die Charaktere zu weich zeichnet; selbst der raue Divine Eye offenbart ziemlich schnell verletzliche Seiten. Die Gewalt hinter den Gefängnismauern und die soziale Verrohung deutet Kwedar nur an. Viel intensiver wirkt im Film die quälende Einsamkeit in der Isolation und die rettende Abwechslung, die durch das Theaterspiel entsteht. Im immer kälteren sozialen Klima der USA mit ökonomisch potenten, weißen Remplern an der Macht ist Kwedars von aufrechtem Humanismus beseeltes Drama ein echter Glücksfall. Die dürre Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist im Land der politisch entfesselten A-Sozialen, die Schwächere immer härter an die Kandare nehmen, stirbt zuletzt.
Sing Sing. USA 2023. Regie: Greg Kwedar. Mit Colman Domingo, Paul Raci. 107 Minuten. Ab 12 Jahren