„Der bürokratische Aufwand ist zu hoch“
Das Interview: Im Rahmen eines sechswöchigen Pilotprojekts erhalten in Baden-Württemberg erstmals Menschen in rund 40 Hausarztpraxen Coronaschutzimpfungen. Jens Steinat aus Oppenweiler ist einer der Ärzte, die an dem Projekt teilnehmen.

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Bei dem Pilotprojekt wird ausschließlich der Impfstoff von Biontech verwendet. Foto: Imago/Lehtikuva
Von Melanie Maier
Zum Hausarzt statt ins Impfzentrum für die Coronaimpfung: Mitte April, sobald genügend Impfstoff zur Verfügung steht, soll das Realität werden. Um herauszufinden, wie der Ablauf in den Hausarztpraxen reibungslos funktionieren kann, ist diese Woche ein sechswöchiges Pilotprojekt gestartet. Der Allgemeinmediziner und Kreis-Pandemiebeauftragte Jens Steinat berichtet, wie das Projekt angelaufen ist und wie er den kommenden Wochen entgegensieht.
Herr Steinat, wann haben Sie erfahren, dass Sie am Pilotprojekt teilnehmen würden?
Wir haben relativ kurzfristig die Bitte vom Sozialministerium und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) erhalten, dass die Pandemiebeauftragten, die sich sowieso schon seit über neun Monaten wöchentlich in Videokonferenzen austauschen, als Pilotpraxen zur Verfügung stehen sollen. Der Hintergrund ist, dass wir in der Struktur schon eingebettet sind, die Umsetzung also relativ schnell möglich war. Deshalb hat in jedem Landkreis der Pandemiebeauftragte das Pilotprojekt übernommen. Die letzten Eckpunkte haben wir erst letzten Freitag bei einer Videokonferenz erfahren.
Wie sind Sie dann vorgegangen?
Wir haben unsere Praxisorganisation umgestellt. Wir haben versucht, die Impfungen außerhalb der regulären Sprechzeiten zu machen, damit wir das geordnet und unter der Hygienekonzeption durchführen können. Am ersten Tag, am Mittwoch, haben wir zwischen 12.30 und 14.30 Uhr zwölf Personen geimpft. Das hat auch dank unserer Fachangestellten wunderbar funktioniert.
Wie viele Impfungen können Sie leisten?
Wir haben 54 Impfungen pro Woche an drei Impftagen: am Mittwoch sind es zwölf, am Donnerstag 30 und am Samstag noch einmal zwölf. Donnerstag und Samstag mache ich hauptsächlich Hausbesuche, was natürlich für einen großen Arbeitsaufwand sorgt. Die anderen Termine sind in der Praxis.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Personen ausgewählt, die geimpft werden?
Eine nötige Priorisierung ist schmerzhaft und undankbar, insbesondere für uns Ärzte, die unsere Patienten bestmöglich geschützt sehen möchten. Wir gehen entsprechend der Impfverordnung vor: Primär berücksichtigen wir Personen über 80 Jahren. Im Weiteren beachten wir auch die Personen über 70 Jahren mit schweren Vorerkrankungen. Ein Schwerpunkt liegt auch auf Patienten, die Hausbesuche benötigen, da diese Patientengruppe bisher kaum einen Zugang zu Impfungen hatte.
Wie läuft so eine Impfung ab?
Die Patienten kommen in Zehn-Minuten-Slots an die Reihe. Als Erstes messe ich die Temperatur, dann gehe ich den Anamnesebogen mit den Patienten durch und schaue im PC, ob es wegen einer Diagnose oder der Medikamente Probleme geben könnte. Die Impfung führe ich selber durch. Am vergangenen Sonntag habe ich mich noch einmal im kommunalen Impfzentrum schulen lassen, wie man den Impfstoff aufzieht. Das ist nämlich relativ kompliziert. Wenn wir in die Fläche gehen, können wir aber auch die Arzthelferinnen in der Aufbereitung des Impfstoffes schulen. Nach der Impfung kommt eine Nachbeobachtungszeit von 15 bis 30 Minuten. Am Mittwoch haben alle Patienten die Impfung komplikationslos vertragen.1
Wie hoch ist der bürokratische Aufwand im Vergleich zu einer Grippeimpfung?
Meines Erachtens ist die Bürokratie, die mit der Impfung zusammenhängt, viel zu hoch. Der Aufwand für die Coronaimpfung im Vergleich zu einer Grippeimpfung ist um ein Mehrfaches höher und ehrlich gesagt bezweifle ich den medizinischen Sinn dahinter. Wenn man sich anschaut, dass in den USA im Drive-in geimpft wird, die Wagen in der Kolonne stehen und einer nach dem anderen die Spritze in den Arm kriegt, fragt man sich schon, ob wir Deutschen das nicht zu kompliziert machen. Da würde ich mir von oberster staatlicher Seite ein deutlich pragmatischeres Vorgehen wünschen. Man muss sich schon überlegen, was man jetzt möchte: Möglichst schnell möglichst viele impfen, um möglichst viel Leid, Krankheit und Todesfälle von der Bevölkerung fernzuhalten, und möglichst schnell unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben zur Normalität zu bringen? Oder möchte man das Ganze durch eine unnötige Verrechtlichung des Impfvorganges künstlich verlangsamen? Deutsche Gründlichkeit ist gut. Aber die hält uns in meinen Augen momentan auf.
Wie meinen Sie das?
Als Pilotpraxen haben wir zum Glück eine etwas abgespeckte Bürokratie bekommen. Abends melden wir die Anzahl der durchgeführten Impfungen an das Robert-Koch-Institut. Die Personendaten werden über die normale Kassenabrechnung registriert. Das ist im kommunalen Impfzentrum viel aufwendiger. Den Anamnesebogen und den Aufklärungsbogen geben wir den Patienten oder deren Angehörigen schon bei der Terminvereinbarung. Die lesen sich das zu Hause durch und füllen das aus, sodass die Arbeit im Vorfeld gelaufen ist.1
Was würden Sie am Ablauf ändern?
Da gibt es schon viele Punkte, die sich noch zeigen müssen: Inwieweit ist die Dokumentation weiterhin so ausgiebig notwendig? Wo kann man Abstriche machen, die die Qualität nicht beeinträchtigen? Zum Beispiel die Nachbeobachtungszeit, ist die jedes Mal nötig?
Was schätzen Sie: Wird es nach dem Ende der sechswöchigen Probephase möglich sein, in der Fläche zu impfen?
Ich hoffe es ganz arg. Ich weiß, dass viele Kolleginnen und Kollegen bereit sind, über die sowieso schon extrem angestiegene Arbeitszeit hinaus die Impfungen schnell durchzukriegen. Denn unser aller Ziel ist es, unsere Patienten zu schützen. Im Winter verimpfen wir 20 Millionen Grippeimpfungen innerhalb von drei Monaten neben dem normalen Praxisbetrieb. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir – wenn es so weit ist – den Impferfolg herbeiführen können. Wichtig ist mir noch eines: In unserer Praxis hören wir jeden Tag, dass der Wunsch da ist, sich beim Hausarzt impfen zu lassen. Das freut uns, aber bis es so weit ist, sollte jeder, der dazu berechtigt ist, versuchen, selber über die Impfzentren einen Termin zu organisieren. Was man hat, das hat man.

© Jörg Fiedler
Steinat wurde 1977 in Backnang geboren. Er wuchs in Unterweissach und Unterbrüden auf. Sein Abitur absolvierte er 1996 in Backnang, den Zivildienst bei der Backnanger Rettungswache.
Nach einer Ausbildung zum Rettungsassistenten studierte er von 1998 bis 2004 Humanmedizin an der Uni Tübingen, wo er auch promovierte.
Es folgten mehrere Stationen als Assistenzarzt, zuerst in Nottwil (Schweiz), dann in Winnenden, Waiblingen und Rudersberg. Im April 2011 übernahm Steinat seine Hausarztpraxis in Oppenweiler. Seit 2019 ist er Zweiter Vorsitzender der Ärzteschaft Backnang, seit August 2020 Pandemiebeauftragter des Rems-Murr-Kreises.
Steinat ist verheiratet und hat drei Kinder.