„Die Angst ist unser ständiger Begleiter“
Während die Schulen nach den Osterferien auf Fernunterricht setzen, mussten die Kindergärten und Kindertagesstätten in der Region direkt wieder aufmachen – ohne neue Strategie. Die pädagogischen Fachkräfte fühlen sich von den Politikern vergessen.

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Die Kindertageseinrichtungen sind „unter Pandemiebedingungen“ geöffnet. Am Eingang des Kindergartens Oberweissach hängen zahlreiche Warnschilder. Foto: A. Becher
Von Melanie Maier
BACKNANG/WEISSACH IM TAL. Für die Schulen hat es Öffnungsstrategien für die Tage nach Ostern gegeben. Konzepte, die Fernunterricht vorsehen, eine schrittweise Öffnung bei sinkenden Inzidenzzahlen. Bei den Kindertagesstätten und Kindergärten dagegen: nichts. „Von null auf 100 sollten sie direkt wieder in den Regelbetrieb gehen“, sagt Christhild Schenk, die Kindergartenbeauftragte der evangelischen Gesamtgemeinde Backnang. Die pädagogischen Fachkräfte, die sich bei ihr melden, sagen: „Wir fühlen uns von den Politikern übergangen.“ In der Politik, führt Schenk aus, sei oft von den Schulen die Rede, aber selten von den Kindertagesstätten.
Seit dem 22. Februar sind die Kindertageseinrichtungen und Einrichtungen der Kindertagespflege in Baden-Württemberg wieder für einen Regelbetrieb geöffnet. „Unter Pandemiebedingungen“, heißt es in der Coronaverordnung des Landes. Was das in der Praxis bedeutet, weiß wohl keiner so genau. „Ein Kind, das hinfällt, kann ich nicht aus 1,5 Meter Abstand und mit Maske trösten“, betont Claudia Lang, die den Kindergarten Oberweissach leitet. Wie alle, mit denen für diesen Artikel Gespräche geführt wurden, ist sie der Meinung: Die Öffnung der Kitas und Kindergärten war für die Kleinen wichtig. „Die Kinder brauchen die sozialen Kontakte“, sagt sie. Doch Lang sieht auch die andere Seite. Bei den Fachkräften, berichtet die Kindergartenleiterin, schwebe die Angst immer mit. „Die Angst“, sagt sie, „ist auf der Arbeit unser ständiger Begleiter.“
Wie viele ihrer Kollegen kommt sie sich momentan vor, als lebe sie in zwei Parallelwelten: Im Kindergarten hat sie engen Kontakt zu den Kindern, „daheim fahre ich komplett zurück“. Sie wundert sich, „wie so etwas sein kann in einer Gesellschaft“. Schwierig findet sie, dass nach den Osterfeiertagen geöffnet wurde, ohne den Trägern und Leitern der Kindergärten und Kindertagesstätten neue Strategien an die Hand zu geben. Die Einrichtungen sind voll besetzt, eine Notbetreuung mit kleinen Gruppen wie im vergangenen Herbst oder im Frühjahr vor einem Jahr gibt es nicht mehr. Dazu finden zurzeit viele Eingewöhnungen von neuen Kindern statt, sagt Lang. „Das funktioniert nicht mit Maske.“
Vor den Feiertagen haben sie und ihre Kollegen Berechtigungsscheine erhalten, um sich zweimal wöchentlich beim Arzt oder in der Apotheke auf Corona testen zu lassen. Nun sollen sie sich zweimal pro Woche selbst testen, aber die Testkits sind noch nicht angekommen. Immerhin: Einen bestätigten Coronafall hat es im Kindergarten Oberweissach bis jetzt noch nicht gegeben.
„Es wurde ja auch lange propagiert, dass Kinder nicht ansteckend sind.“
Anders ist das in der Backnanger Einrichtung, deren Leiterin anonym bleiben möchte. Sie habe sich schon ein Stück weit daran gewöhnt, mit der Unsicherheit leben zu müssen, sagt sie. Im Wissen, dass jeden Tag etwas passieren kann. Dass die Einrichtungen nach den Feiertagen direkt wieder geöffnet haben, hat sie nicht groß überrascht. „Das passt zu der Logik, der wir schon die ganze Zeit folgen: Die Familien müssen entlastet werden, die Kinder brauchen soziale Kontakte“, fasst sie zusammen. Das sei auch alles richtig. Aber ein Infektionsschutz sei unter diesen Bedingungen nicht einzuhalten: „Es wird dauern, bis wir wieder ohne Angst arbeiten können.“ Und das, obwohl in ihrer Einrichtung die Testkits für Selbsttests bereits da sind, einige Erzieherinnen mit Maske arbeiten, weil sie mal in der, mal in jener Gruppe arbeiten. Für die Kinder sei das nicht weiter dramatisch, erklärt die Leiterin: „Sie sind an die Masken gewöhnt.“
Die meisten Eltern, sagt sie, haben für die Situation der Erzieher Verständnis. Andere sehen nicht ein, dass von ihren Kindern überhaupt eine Gefahr ausgeht. „Es wurde ja auch lange propagiert, dass Kinder nicht ansteckend sind“, sagt sie. Neuere Studienergebnisse widersprechen jedoch früheren Untersuchungen, nach denen von Kindern und Jugendlichen nur ein geringes Infektionsrisiko ausgeht. Der Anteil der Infektionen bei ihnen liegt im Südwesten nun bei etwa 20 Prozent, wie aus Daten des Landesgesundheitsamts hervorgeht. Dies sei auf die Öffnung von Kitas und Schulen sowie auf die Ausbreitung der leichter übertragbaren Virusvariante B.1.1.7 zurückzuführen.
Im Landkreis Schwäbisch-Hall sind die Kindertagesstätten derweil seit 22. März aufgrund der hohen Inzidenzzahlen geschlossen. „Insbesondere in den letzten zwei Wochen sind die Infektionen in den Kitas deutlich angestiegen“, begründete die Behörde die Entscheidung. Rund 400 der Infektionen und Folgefälle gingen auf die dortigen Ausbrüche zurück. Die Notbetreuung wird weiter angeboten. Auch in Mannheim waren die Kitas bis Ostern geschlossen. Am Dienstag haben sie wieder geöffnet – mit Testangeboten für Erwachsene und Kinder sowie einer Maskenpflicht für alle Erwachsenen, „auch in der pädagogischen Arbeit“.
Tests für Erwachsene und für Kinder, das könnte eine Strategie sein, meint auch Claudia Lang vom Kindergarten Oberweissach. Es gebe zwar Familien, die sich einmal pro Woche gemeinsam testen lassen. Die meisten Kinder, sagt sie, „werden aktuell aber gar nicht getestet“.
Schnelltests bei Kindern fordert ebenfalls der Verband der Kita-Fachkräfte Baden-Württemberg – auch wegen der „bisher noch unklaren und kaum abschätzbaren gesundheitlichen Spätfolgen, welche eine Coronaerkrankung für Kinder haben kann“. Tests für Kinder seien sowohl durchführbar als auch sinnvoll, heißt es auf der Website des Verbands: „Richtig eingesetzt entlasten sie die Kinder selbst, aber auch die Familien, Einrichtungen und die Wirtschaft.“
„Die Quadratur des Kreises“ nennt die Backnanger Kindergartenbeauftragte Christhild Schenk den Versuch, für alle Beteiligten die beste Lösung zu finden. Doch auch sie spricht sich für Tests bei Kindern aus. Gut findet Schenk, dass nun auch Erzieher die Coronaschutzimpfung bekommen können. „Das ist sicherlich ein positives Zeichen“, sagt sie über die geänderte Priorisierung und fügt hinzu: „Ich verstehe nur nicht, wieso mit der Öffnung nicht gewartet wurde, bis alle Fachkräfte die erste Impfung erhalten haben.“
Von Melanie Maier
Die Erzieherinnen und Erzieher werden von der Politik im Stich gelassen. Dass Kitas und Kindergärten geöffnet sind, ist gut und richtig – diese Meinung vertreten sogar die meisten Fachkräfte, obwohl sie nicht ausreichend vor einer Ansteckung geschützt sind bei ihrer Arbeit: Im engen Umgang mit den Kindern gehen sie jeden Tag ein hohes Risiko ein. Denn dass auch die Kleinsten Sars-CoV-2 übertragen können, ist wissenschaftlich inzwischen unumstritten.
Was aber ist die Lösung? Eine Maske zu tragen, das ist weder für Kleinkinder noch für die Menschen möglich, die sie stundenlang betreuen. Die Mimik spielt – vor allem für die Kinder, die noch nicht sprechen können – eine zu große Rolle. Kleinere Gruppen wären wünschenswert, sind aber wegen des akuten Personalmangels nicht möglich. Es bleiben Tests und Impfungen. Alle Erzieher, die das möchten, sollten schnellstmöglich geimpft, Kinder und Fachkräfte zweimal wöchentlich kostenfrei und vor Ort getestet werden. Am besten mit kinderfreundlichen Speicheltests, wie sie bereits in Österreich eingesetzt werden.
m.maier@bkz.de