Ein Leben auf Pause

In der Aufnahmeeinrichtung Haus Karla finden wohnungslose Frauen ein vorübergehendes Zuhause. Seit dem Ausbruch der Coronapandemie ist die Rückkehr in ein eigenständiges Leben für die Bewohnerinnen schwieriger geworden.

Das Haus Karla befindet sich in der Karlstraße. Im Erdgeschoss ist die Werkstatt Karla Kreativ, darüber sind die Wohngemeinschaften. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Das Haus Karla befindet sich in der Karlstraße. Im Erdgeschoss ist die Werkstatt Karla Kreativ, darüber sind die Wohngemeinschaften. Foto: A. Becher

Von Melanie Maier

BACKNANG. Besuchsverbot, FFP2-Masken auf den Fluren, keine Treffen mehr unter den Wohngemeinschaften (WGs): Der Alltag im Haus Karla hat sich seit dem Ausbruch der Pandemie stark gewandelt. Die Aufnahmeeinrichtung bietet volljährigen Frauen aus dem Rems-Murr-Kreis ein vorübergehendes Zuhause. Zehn Wohnplätze hat das Haus offiziell, im Moment leben elf Frauen dort in drei ambulant betreuten Wohneinheiten. Eine davon diente ab und zu als Notunterkunft, wenn genügend Platz war. Doch das ist schon lange nicht mehr der Fall. „Wir sind voll – nein, übervoll“, sagt die Sozialarbeiterin Christina Demertzi.

Wer neu ins Haus kommt, muss sich zuerst einem Schnelltest unterziehen und dann sieben Tage in Quarantäne verbringen. Das ist schon ein großer Fortschritt im Vergleich zu der Situation im vergangenen Frühjahr, als die Krise ausbrach. „Die Bewohnerinnen sind seit zwölf Monaten im Dauerstress“, sagt Demertzi. Anfangs sei es besonders kompliziert gewesen, als es noch keine Schnelltests gab. „Wir mussten immer sechs, sieben Tage auf die Ergebnisse warten – und wussten in der Zwischenzeit nicht, was los ist. Ob die Person, die wir aufgenommen haben, vielleicht sogar positiv ist“, berichtet die Sozialarbeiterin.

Darüber hinaus gibt es derzeit kaum Perspektiven auf baldige Veränderung im Leben der Bewohnerinnen, weiß Anton Heiser, Abteilungsleiter der Ambulanten Hilfen Rems-Murr bei dem Sozialunternehmen Erlacher Höhe, zu dem das Haus Karla gehört. „In Regionen wie unserer, in der die Wohnraumsituation sowieso extrem angespannt ist, ist es momentan sehr schwierig, eine Wohnung zu finden – insbesondere für sozial Benachteiligte.“ Das langfristige Ziel, die Bewohnerinnen in den eigenen Wohnraum zu vermitteln, könne aktuell so gut wie nicht umgesetzt werden. „Bei uns stagniert gerade alles“, so Heiser. „Die Leute sind viel länger bei uns als sonst.“

Durchschnittlich eineinhalb bis zwei Jahre bleiben die Frauen im Haus Karla. Manche sind nur für ein paar Tage oder Wochen da, andere jahrelang. Victoria (Name geändert) zog im Mai 2019 in eine der WGs ein. Als die Pandemie begann, stand sie kurz vor dem Auszug. Die junge Frau wollte zu ihrem Freund nach Kanada ausreisen und dort ein neues Leben beginnen. Doch das war im Frühjahr 2020, bei geschlossenen Grenzen, nicht mehr möglich. Deshalb wohnt Victoria noch immer in der WG.

Bevor sie wohnungslos wurde, hatte sie Soziale Arbeit studiert. Durch finanzielle Schwierigkeiten und wegen ihrer Depressionen geriet sie in eine „ziemlich doofe Abwärtsspirale“, sagt sie. Sie verlor ihre Wohnung, wohnte einen Monat lang in einer Notunterkunft für Obdachlose. Das dortige Kriseninterventionsteam vermittelte sie an das Haus Karla. Ein Glücksfall, sagt Victoria.

Wobei es zuerst nicht einfach für sie war, in ihrer neuen Unterkunft anzukommen. Anfangs war sie tagsüber in einer Klinik zur Therapie, nur die Nächte verbrachte sie in der WG. „Hotelmäßig“ nennt Victoria diese Zeit. In den knapp zwei Jahren, die sie im Haus wohnt, hat sie nun schon viele WG-Konstellationen erlebt – Mitbewohnerinnen, mit denen es besser, und solche, mit denen es nicht so gut passte. In der aktuellen Zusammensetzung fühlt sie sich wohl. „Eine super WG!“, sagt Victoria. „Wir unterstützen uns gegenseitig, spielen miteinander oder gehen zusammen spazieren.“

Im Haus Karla gab es seit dem Ausbruch der Pandemie noch keine Covid-19-Fälle.

Die gemeinsame Zeit mit den anderen ist ihr sehr wichtig. Gerade jetzt, wenn wegen der Pandemie die hauseigene Werkstatt Karla Kreativ nur noch an zwei Vormittagen pro Woche statt jeden Vormittag geöffnet ist. Der regelmäßige Austausch mit den anderen WGs fehle ihr, sagt Victoria, außerdem die Struktur und auch das finanzielle Plus. Für ihre Arbeit in der Werkstatt erhalten die Frauen eine kleine Vergütung.

Jetzt müssen sie sich eigene Tagesstrukturen schaffen. Das ist mit einer Depression sehr schwer, erklärt Victoria. „Ich bin froh, dass Karla Kreativ noch an zwei Tagen offen hat“, sagt sie. „An den anderen Tagen frage ich mich oft: Wie schaffe ich es, morgens nicht einfach im Bett liegen zu bleiben?“

Eine weitere Schwierigkeit für sie: Therapien sind derzeit nur telefonisch möglich. „Das ist nicht dasselbe, wie wenn man jemandem gegenübersitzt“, sagt Victoria. Bei einer Depression, führt sie aus, würde man empfehlen, sich mit anderen zu treffen. Doch genau das sei jetzt so gut wie gar nicht möglich.

Ein bisschen genervt sei sie schon vom Masketragen und ständigen Lüften – „gerade im Winter, wenn man in der Werkstatt steht und schlottert, weil es so kalt ist“. Die Frauen halten sich unterschiedlich gut an die Hygieneregeln, sagt die Sozialarbeiterin Demertzi. Sie seien quasi ein Spiegel der Bevölkerung: „Manche halten sich ganz genau an die Regeln, andere fühlen sich vielleicht ein bisschen zu sicher.“

Immerhin: Im Haus Karla gab es seit dem Ausbruch der Pandemie noch keine Covid-19-Fälle, „dafür sind wir echt dankbar“, sagt Abteilungsleiter Heiser. Seit 8. März bieten freiwillige wöchentliche Schnelltests den Bewohnerinnen und Mitarbeitern mehr Sicherheit.

Was den Bewohnerinnen im Lockdown gemeinsam ist: Durch Corona haben ihre Ängste zugenommen. Dass viele nicht wissen, wie es weitergeht, weil sie ihre Ausbildungsstelle nicht antreten können, Therapien ausgesetzt werden oder Jobcenter-Maßnahmen wegfallen, das sei verheerend, „gerade mit Depressionen“, sagt Demertzi. Für wohnungslose Frauen sei es allgemein noch einmal schwieriger als für Männer, weiß die Sozialarbeiterin. „Das Thema Gewalt ist bei 99 Prozent der Frauen präsent, sei es in der Kindheit oder aktuell“, sagt sie. Die Geschichten, die sie mitbringen, machen einen großen Unterschied zu der Lage wohnungsloser Männer. Selbst in den Notunterkünften seien Frauen oft psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt, sagt Heiser, deshalb sei es wichtig, die Frauen so schnell wie möglich in ein sicheres Umfeld zu bringen.

Im Haus Karla sollen die Frauen erst einmal in Ruhe ankommen dürfen, bevor es daran gehe, wieder ein eigenständiges Leben aufzubauen. „Es geht darum, sie zu stabilisieren, Ängste abzubauen“, sagt Demertzi und fügt hinzu: „Das dauert!“ Schritt für Schritt unterstützen sie und ihre Kolleginnen die Bewohnerinnen dabei, wieder Fuß zu fassen. Wichtig ist ihr, dass die Frauen wissen, dass sie jederzeit zurückkommen können. Mit vielen ehemaligen Bewohnerinnen ist Demertzi noch immer in Kontakt – und freut sich, wenn sie sieht, dass ihre Schützlinge ein erfülltes Leben führen.

Victoria plant nach wie vor, mit ihrem Freund einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Auswandern möchte sie, „sobald es möglich ist“.

Hier finden Wohnungslose Hilfe

Das Haus Karla richtet sich an weibliche, volljährige und alleinstehende Frauen aus dem Rems-Murr-Kreis, die auf der Straße stehen oder akut von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Das Aufnahmehaus Friedrichstraße ist das Pendant für Männer.

Ob die Voraussetzungen für eine Aufnahme erfüllt sind, wird zunächst in der Fachberatungsstelle geklärt. Diese bietet nach telefonischer Vereinbarung Beratungstermine telefonisch und weiterhin vor Ort an.

Für Nachfragen ist Anton Heiser unter der Telefonnummer 07191/367970 und per E-Mail an anton.heiser@erlacher-hoehe.de erreichbar. Weitere Informationen findet man unter www.erlacher-hoehe.de/angebote/fachberatungsstelle-backnang.

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Erstellt:
25. März 2021, 11:30 Uhr

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