Gibt es Corona eigentlich noch?

Kaum jemand trägt noch eine FFP2-Maske beim Einkaufen oder in der S-Bahn, so gut wie niemand hat mehr Schnelltests zu Hause. Die Pandemie scheint nur noch eine entfernte Erinnerung zu sein. Dabei nehmen die Fallzahlen gerade wieder leicht zu.

Im Frühjahr 2022 galt eine Maskenpflicht auf dem Schulhof der Backnanger Schillerschule. Heute kann man sich das schon fast nicht mehr vorstellen. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Im Frühjahr 2022 galt eine Maskenpflicht auf dem Schulhof der Backnanger Schillerschule. Heute kann man sich das schon fast nicht mehr vorstellen. Foto: Tobias Sellmaier

Von Melanie Maier

Rems-Murr. Die Zeit, in der das Landratsamt auf einem Online-Dashboard täglich die Zahl der Coronainfizierten im Rems-Murr-Kreis veröffentlicht hat, ist noch nicht so lange her. Am 31. März dieses Jahres wurden die letzten Daten online gestellt. Zum 30. April wurden auch das kreisweite Buchungsportal für Coronatests (Cosan) und die App RMK-Cosima eingestellt, mit der Personen, die eine spezielle Schulung abgelegt hatten, Schnelltests etwa im Büro abnehmen durften. Keine vier Monate sind seither vergangen.

Und doch fühlt es sich für die diejenigen, die glimpflich aus der Pandemie hervorgegangen sind, die keine nahestehenden Menschen an das Virus verloren haben und auch nicht von Post-Covid betroffen sind, manchmal so an, als lägen bereits Jahre zwischen dem Übergang von der Pandemie zur Endemie (siehe Infotext). Nur selten sieht man noch Personen, die mit einer FFP2-Maske einkaufen oder im Zug sitzen, so gut wie niemand hat mehr Schnelltests zu Hause vorrätig. Und auch die Erinnerungen an die Lockdowns, an die Wochen, in denen einige das Brotbacken lernten, andere 3000-teilige Puzzles zusammensetzten und wieder andere am Montagabend auf den Straßen gegen die Coronamaßnahmen skandierten, scheinen fast wie aus einem anderen Zeitalter.

Es kursieren Meldungen über eine neue Coronavirusvariante

Im Rems-Murr-Kreis gibt es laut Landratsamt keine Ausschüsse oder Gremien mehr, die sich speziell mit Corona befassen. „Im Gesundheitsamt gibt es aber weiterhin Fachpersonal, das sich mit der Bearbeitung der aktuellen Fälle sowie mit der Aufarbeitung der Pandemie beschäftigt. Die Daten werden bearbeitet und ausgewertet“, teilt Pressesprecherin Rojda Firat mit.

Fühlen wir uns zu sicher? Seit ein paar Wochen kursieren Meldungen über die neue Coronavirusvariante EG.5, die auch als Eris bezeichnet wird. Vor einigen Tagen erst hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Mutation hochgestuft. Sie gilt nun als „Virusvarianten von Interesse“. Damit ist Eris eine von drei Varianten, die bei der WHO unter erhöhter Beobachtung stehen. Dazu zählen zudem die Omikronvarianten XBB.1.5 und XBB.1.16. Während zweitere vor allem in Asien zirkuliert, kommt die erstgenannte auch in Deutschland öfter vor.

Ansteckender, aber nicht gefährlicher

Doch welche Gefahr geht von Eris aus? Die neue Variante gilt als ansteckender, nicht aber als gefährlicher als vorherige Varianten. Von einer neuerlichen „Sommerwelle“, wie wir sie aus den vergangenen Jahren kennen, geht Torsten Ade, Leiter der Krankenhaushygiene der Rems-Murr-Kliniken, derzeit nicht aus. Dort hatten in den zurückliegenden 14 Tagen vier Patienten einen positiven Covid-Test. „Wir sprechen von vereinzelten Fällen. Das ist Lichtjahre von dem entfernt, was wir schon hatten“, betont der Chefarzt. Auf der Intensivstation liege derzeit niemand, der an Corona erkrankt sei. Deutschlandweit, fügt er hinzu, liege die 7-Tage-Inzidenz dem Robert-Koch-Institut zufolge gerade einmal bei vier Fällen pro 100000 Personen (Rems-Murr-Kreis: fünf). Corona sei momentan kein führendes Thema mehr.

Dennoch rechnet Ade spätestens im Herbst wieder mit steigenden Fallzahlen. Bedingt zum einen durch einen bestimmten Virentransfer aus Urlaubsgebieten, viel mehr aber noch durch den jahreszeitlich typischen Anstieg respiratorischer Erkrankungen wie Influenza, RS-Virus und nun eben auch Corona. Von zirka Ende Oktober bis etwa zur Faschingszeit rechnet er mit einer erhöhten 7-Tage-Inzidenz und mehr Fällen auch am Klinikum. „Dass es eine Belastung des Gesundheitssystems geben wird, ist gesichert“, stellt Torsten Ade nüchtern fest.

Sorgen macht er sich deswegen aber keine. Das Klinikum sei im Umgang mit der Krankheit erprobt, die Coronamaßnahmen seien zwar ausgesetzt, aber nie abgesetzt worden. Bei Bedarf könnten schnell wieder alle, die ins Krankenhaus müssen, auf Covid-19 getestet werden. Auch eine Maskenpflicht könnte problemlos wiedereingeführt werden. Gerade werden nur Patienten getestet, bei denen eine medizinische Notwendigkeit vorliegt.

Viele Fälle werden gar nicht entdeckt

So handhabt es Jens Steinat ebenfalls. Der Allgemeinmediziner aus Oppenweiler war bis Ende Februar Pandemiebeauftragter für den Rems-Murr-Kreis. Seit ungefähr drei Wochen nimmt er wahr, dass die Anzahl Covid-Infizierter nach langer Zeit wieder ansteigt. Er vermutet allerdings, dass viele Fälle gar nicht entdeckt werden. „Es testet sich ja so gut wie kein Mensch mehr, vieles läuft als grippaler Infekt unter dem Radar“, so Steinat.

Auch in seiner Praxis testet er nur noch, wenn es medizinisch indiziert ist – etwa bei Patienten mit einer Gefahr für einen schweren Erkrankungsverlauf. „Die Frage ist, ob es wirtschaftlich ist zu testen. Denn es gibt ja keine Einschränkungen mehr für Coronapositive“, erklärt er. Wer den Verdacht hegt, positiv zu sein, sollte sich zu Hause isolieren, bis die Symptome wieder abklingen, sagt Steinat. „So wie bei jedem anderen Infekt auch.“

Gibt es Corona eigentlich noch?

© Jörg Fiedler

Problematischer als die Erkrankung selbst sieht der Arzt die Langzeitfolgen, die diese haben kann. Diabetes, chronische Müdigkeit, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Herzrhythmusstörungen sind nur ein paar der Konsequenzen, die eine Infektion nach sich ziehen kann. „Die sehen wir recht häufig, auch bei jungen Menschen“, sagt Steinat. Seinem Gefühl nach leidet etwa jeder zehnte Coronainfizierte an Post-Covid.

Besonders gefährdet seien diejenigen ohne eine Grundimmunität durch eine Impfung oder eine vorherige Coronaerkrankung.

Steinat geht davon aus, dass Post-Covid künftig eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem wird. Eine einheitliche und substanzielle Behandlung existiere nämlich noch nicht. Es gebe zwar ein paar wenige Post-Covid-Ambulanzen, „aber die sind immer noch relativ rudimentär“.

Möglichst gesundheitsbewusst verhalten

Er appelliert deshalb an jeden Einzelnen, sich möglichst gesundheitsbewusst zu verhalten – nicht zu rauchen, Alkohol nur in Maßen zu trinken und regelmäßig Sport zu treiben. Das schütze zwar nicht vor einer Erkrankung, stärke aber das Immunsystem. Impfen lassen sollten sich alle Menschen über 60 Jahre, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen und all diejenigen, die in Risikobereichen arbeiten. Dasselbe gelte auch für die Grippeschutzimpfung, betonen Jens Steinat und Torsten Ade.

Die beiden Ärzte halten es außerdem für sinnvoll, im Herbst und Winter an belebten Orten eine Maske zu tragen. „Das würde dabei helfen, die Krankenlast insgesamt zu verringern, was angesichts der ohnehin angespannten Situation bei den Hausärzten und in den Krankenhäusern wichtig ist“, führt Jens Steinat aus. Es gelte, jeden Infekt zu verhindern.

Im Fall eines unvermuteten Wiedererstarkens von Corona oder einer weiteren Pandemie mit neuem Erreger sehen sowohl die Ärzte als auch das Landratsamt den Landkreis momentan als gut vorbereitet an. In den vergangenen drei Jahren seien entsprechende Prozesse und Strukturen entwickelt worden, heißt es vom Landratsamt. Dies sei ein wichtiger Bestandteil des Katastrophenschutzes im Rems-Murr-Kreis.

Epidemie, Pandemie, Endemie

Epidemie Ist von einer Epidemie die Rede, bedeutet das, dass eine Krankheit in einem begrenzten Zeitraum in einer bestimmten Region gehäuft auftritt.

Pandemie Stecken sich Menschen in vielen Ländern oder gar weltweit innerhalb eines begrenzten Zeitraums mit einer Krankheit an, spricht man von einer Pandemie.

Endemie Bei einer Endemie verschwindet die Krankheit in einer bestimmten Region nicht mehr. Menschen können sich immer wieder damit anstecken. Ein Beispiel für
eine endemische Krankheit in Deutschland ist die Grippe. Auch Corona gilt hierzulande mittlerweile als endemisch.

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Erstellt:
22. August 2023, 06:00 Uhr

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