Georg-Büchner-Preis
Akustik des Abgrunds
Begleitet von Eseln, Nashörnern und strahlenden Karpfen hat die Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt den Büchner-Preis an den Autor Lutz Seiler verliehen.
Von Stefan Kister
Tiere spielen ganz klar die Hauptrolle: Das ist erstaunlich, denn man befindet sich weder im Zoo noch im Zirkus, sondern im Darmstädter Staatstheater, wo die Akademie für Sprache und Dichtung ihre wichtigsten Auszeichnungen vergibt. Neben dem Büchner-Preis sind das der Merck-Preis für literarische Kritik und Essay und der Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
Die geistige Elite des Landes, die sich hier versammelt, bekommt in diesem Jahr unter anderem vorgeführt, wie ihre vornehmsten Eigenschaften von der Fauna zurückgespiegelt werden. So treibt die Literaturkritikerin Daniela Strigl in der Laudatio auf ihre mit dem Merck-Preis geehrte Kollegin, Jutta Person, Esel, Falken, Eichhörnchen, Korallen und seltsame Mischwesen wie das Katzenlamm durch die Manege. „Immer wenn Menschen über Tiere schreiben, erzählen sie unter der Hand auch von sich selbst“ – diesen Satz Persons unterzieht ihre Lobrednerin einem Praxistest. Offenbar verrät nicht nur der Körperbau von Insekten einiges über ihren Charakter, sondern auch das Interessensgebiet von Essayistinnen manches über ihre kritische Kunst.
Dass sich in Persons Dankrede Wollnashörner und Mammuts zu der Menagerie hinzugesellen, mag in der Natur der Sache liegen. Doch erstaunt nimmt man zur Kenntnis, dass auch in der anschließenden Laudatio auf den Freud-Preisträger Matthias Glaubrecht Tapire, Tiger, Großfußhühner vorüberziehen. Aber gut, Glaubrecht ist Evolutionsbiologe, und wie man erfährt Spezialist für alles Getier, das man nicht auf der Pizza haben möchte. Zum fünften Mal überhaupt wird ein Naturwissenschaftler von der Darmstädter Sozietät gewürdigt. Glaubrecht wird diese Ehre zuteil für seine Fähigkeit, harte wissenschaftliche Forschung auf eine Weise zu erzählen, die sich auch Fachfremden erschließt.
Und genau darauf könnte es ankommen. Wo Persons literarische Naturkunde das Bewusstsein schärfen möchte für alles, was gerade verloren geht, erinnert der Biologe Glaubrecht daran, „dass wir mit der Biodiversitätskrise, landläufig Artensterben genannt, eine mindestens ebenso große Bedrohung wie den Klimawandel vor uns haben, die den meisten Menschen aber in ihrer Dimension und Dynamik noch weitaus weniger bewusst ist“.
Vergangene Gegenwart
Vor diesem Hintergrund hat das Bestiarium dieser Feierstunde etwas von einer Arche Noah, was irgendwie zu dem Motto der diesjährigen Herbsttagung der Akademie passt: Abschied und Erneuerung. Die letzten Jahre hat der Literaturwissenschaftler Ernst Osterkamp das Schiff durch den von Krisen und Kriegen aufgepeitschten Ozean der Zeit gesteuert. Nun übernimmt mit Ingo Schulze nach langer Zeit wieder ein Autor das Ruder. Bei seiner eigenen Ernennung vor sechs Jahren, erzählt Osterkamp, habe Schulze geseufzt, schon wieder ein Mann: „Auch du, Ingo, bist also nicht perfekt.“
Immerhin teilt dieser mit dem Büchnerpreisträger Lutz Seiler die ostdeutsche Herkunft. „Wann und wo jemand geboren ist, legt ihn nicht fest. Und doch hat der Jahrgang, dem man angehört, wie der Herkunftsort einen Anteil daran, aus welchem Winkel man die Welt wahrnimmt“, sagt Seilers Laudator, der Publizist Lothar Müller. Er entwickelt dessen Schreiben aus einer Phänomenologie des Hörsinns, Flüstern, Murmeln. Seiler liefere das akustische Relief einer vergangenen Gegenwart.
Alles hohl da unten
Und wie das klingt, macht der mit der bedeutendsten Auszeichnung der deutschen Literatur Geehrte vernehmlich, indem er mit dem Gewicht seiner Herkunftsgeschichte behutsam, beinahe flüsternd auf Büchners Drama „Woyzeck“ klopft. „Alles hohl da unten.“
Mit dieser Akustik des Abgrunds beginnt Büchners Stück – und eine Reise an Lutz Seilers Heimatort in Thüringen. Woyzecks metaphorische Erfahrung, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben, beschreibt das Lebensgefühl in Seilers Kindheitsdorf Culmitzsch, das mittlerweile längst zu einer Abraumhalde im Uranbergbaugebiet der ehemaligen DDR geworden ist.
Wo die Wismut im Kalten Krieg das Material für die sowjetische Erwiderung auf das amerikanische Manhattan-Projekt schürfte, gräbt Seiler nach den geschleiften Gräbern der Vorfahren, deren Leben von der harten Arbeit in dem strahlenden Gebiet beherrscht und vernichtet wurde.
Zwischen den Halden im radioaktiven Schutt des 20. Jahrhunderts findet sich auch die Geschichte jenes Mitglieds der Familie, das von der Heilkraft und Magie der Strahlung überzeugt war und in seiner Drogerie radioaktive Zahncremes, Haartinkturen und Balsamica anbot. Unter anderem fand sich hier auch das trichterförmige Modell eine Radiumohrs, ein hybrider Sinnesapparat, der eine vom Radium der Heimat destillierte Ingredienz namens Hörium enthalten sollte. Was hört man damit? Die poetologische Begründung eines Schreibens, das durch die Substanz der Herkunft zu lauschen vermag bis auf jenen Grund, an dem die Stimme wurzelt: „Im Grunde ist das alles, was ich wirklich habe: eine Fantasie vom Hören, ein Daheim im Geräusch, ein Klang vom Anfang und seiner Musik, der ich folge, sei es im Vers oder im Satz.“ Später setzte jener strahlungsfreudige Drogist übrigens auf die Fischzucht. In seinem Teich fanden sich die dicksten Karpfen. Damit schließt sich der Tierkreis dieses denkwürdigen Nachmittags.