Anwitzeln gegen Zumutungen des Lebens
Hajo Heist ist mit seinem „Großen Heinz-Erhardt-Abend“ in der Gruschtelkammer Auenwald zu Gast. Eine ganz besondere Veranstaltung in der Auenwaldhalle vor dem bundesweiten Lockdown light.

© Alexander Becher
Nach seinem Auftritt in der Gruschtelkammer Auenwald geht wegen Corona vorerst einmal nichts mehr: Hajo Heist. Foto: A. Becher
Von Renate Schweizer
AUENWALD. Am Mittwoch, 28. Oktober, um 20 Uhr präsentierte die Gruschtelkammer in der Auenwaldhalle Hajo Heist mit dem „Großen Heinz-Erhardt-Abend“. Datum und Uhrzeit seien an dieser Stelle ausnahmsweise so genau benannt, „denn dieser Abend wird Ihnen unvergesslich bleiben“, so Gruschtelkammer-Chef Charley Graf.
Es wird wohl bis auf Weiteres die letzte Veranstaltung in der Gruschtelkammer gewesen sein, und Charley Graf, der charismatische Strippenzieher der Kleinkunstbühne, und seine Getreuen müssen vor und hinter den Kulissen alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um diese „Sondergenehmigung“ zu bekommen (seit 19. Oktober gilt bekanntlich für ganz Baden-Württemberg die dritte Pandemiestufe mit verschärften Regelungen): am Vorabend quasi der neuen Kontakt- und Veranstaltungsbeschränkungen Hajo Heist alias Heinz Erhardt in der ausverkauften Auenwaldhalle. Und auf traurig-schräge Weise war womöglich ausgerechnet Heinz Erhardt, der wohl bekannteste Komiker der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit, genau passend zur melancholischen Grundstimmung dieser „letzten“ Vorstellung: Anwitzeln gegen die Absurdität und die Zumutungen des Lebens, indem man sie einfach tapfer ignoriert.
Diesmal gibt es keine Bewirtung.
Unignorierbar freilich und allgegenwärtig war das Hygienekonzept: In großen Abständen paarweise Bestuhlung, Dauermundschutz auch während der Veranstaltung, keine Bewirtung natürlich – es half ein bisschen, dass überall auch Tischchen mit flackernden LED-Kerzen und kostenlosem Mineralwasser standen. „Einen letzten Rest Gruschtelkammer-Atmosphäre wollten wir unbedingt erhalten“, so Graf, und fast trotzig leuchtet das Rot seiner Schuhe, der Brille und des Sakkos gegen die Traurigkeit an. Dito das Publikum: Oh ja, man will sich amüsieren und unbedingt auch Solidarität zeigen mit der Auenwalder Gruschtelkammer, der Kleinkunst, den Künstlern und überhaupt dem ganzen notleidenden Kulturbetrieb – und doch liegt wie ein Schimmelpilz bedrückte Erschöpfung über allem.
In diese Atmosphäre passt Heinz Erhardts Humor, man kann’s nicht anders sagen, wie die Faust aufs Auge und Hajo Heist... ja, also, Hajo Heist kommt als Hajo Heist auf die Bühne, plaudert ein wenig und erzählt dies und das über die Gruschtelkammer, Erhardt, sich selbst, das Leben und die Welt, und dann dreht er dem Publikum nur kurz den Rücken zu, setzt eine schwarze Hornbrille auf und verkörpert nun Heinz Erhardt. Einschließlich Körpersprache, Stimme und spießiger Lustigkeit oder lustiger Spießigkeit und, wie bei allen großen Clowns, dieser unterschwelligen, aber entschlossenen Morbidität und der durch Faxen fast schon heroisch kaschierten Verzweiflung. Heinz Erhardts Kindheit und Jugend müssen schrecklich gewesen sein. 1909 in Riga geboren, hin- und hergeschoben zwischen Mutter und Vater (beide haben je dreimal geheiratet) und Großeltern, zwischen Schulen (er hat 25-mal die Schule gewechselt) und Ländern und Kulturen, in eine kaufmännische Ausbildung gezwängt, die er nicht wollte – und aus allem, allem, allem macht er Witze. Zum Beispiel, dass er zehn Jahre lang in die Sexta gegangen sei und dann die Lehrerin geheiratet habe. Zum Beispiel, dass er als Kleinkind allein in nasser Windel im Bettchen fror, denn „nicht nur Mutter und Vater, auch der Ofen war ausgegangen“ – persönlicher wird’s nicht, und zum Vorschein kommt das ganze Elend hilfloser Herrenwitze, mit der „der große“ Heinz Erhardt den Nerv Nachkriegsdeutschlands getroffen hat: „Die Dame des Hauses trägt die feinsten Kleider – und er die Kosten“ oder „Will einer eine Jungfrau frei’n, dann darf er nicht penibel sein“. Kaum zu glauben, aus heutiger Perspektive, dass sich darüber eine ganze Nation beömmelte, aber so war’s.
Trauer und Tod sickern aus allen Ritzen dieser Scherze, es wimmelt nur so von skurrilen Todesarten: Die Made wird vom Specht gefressen, Ritter Fips stürzt in voller Rüstung über die Brüstung, der Knabe lebt, das Pferd ist tot und alles, alles ist witzig. Auf den springenden Punkt (nein, das „hüpfende Komma“) kommt das ganze Elend in einem Lied: „Immer wenn ich traurig bin, trink ich einen Korn. Und wenn ich dann noch traurig bin, trink ich noch’n Korn. Und wenn ich dann noch traurig bin, trink ich noch’n Korn. Und wenn ich dann noch traurig bin, fang ich an von vorn. Immer wenn ich traurig bin...“ und so weiter. Lacht da wer? Alle lachten darüber, und noch im Jahr 2007 wurde Heinz Erhardt nach Loriot zum zweitgrößten deutschsprachigen Komiker gewählt und wahrhaftig: Er hat die Ehrung verdient. Kann er denn was dafür, dass es ist, wie es ist? Am Schluss des Abends verwandelt sich Heinz Erhardt mit einer einzigen Drehung wieder in Hajo Heist, bedankt sich ganz herzlich noch einmal bei Gruschtelkammer und Publikum, wünscht allen einen „guten Nachhauseweg, frohe Weihnachten, einen guten Rutsch, fröhliche Ostern und einen wunderbaren Sommer“ und setzt noch ein fröhliches „Bleibt negativ!“ obendrauf.
Was jetzt kommt, wissen inzwischen alle Besucher: Das Publikum aus Reihe 1 bis 7 zum Seiteneingang raus, aus Reihe 8 bis 15 hinten, zügig, aber mit großem Abstand gehen, wenn’s geht, eine Spende bereithalten für die notleidende Gruschtelkammer, und draußen bitte nicht lange rumstehen und schwätzen. Ein bisschen fühlt sich’s an wie eine Beerdigung, nur ohne Leichenschmaus, und man geht und möcht ein bisschen weinen oder vielleicht doch mit Heinz Erhardt ein Liedchen summen: „Fährt der alte Lord fort, fährt er nur im Ford fort“ – Wortspiele, Kalauer und überhaupt Blödsinn als Alternative zum Selbstmitleid sind allemal den Versuch wert.