Autor spricht vom Recht des Fremdlings

Die Zuhörer bei der Lesung von Joachim Zelter, der aus seinem Roman „Die Verabschiebung“ liest, sind tief beeindruckt und teilweise sprachlos. Zelter berichtet im Bürgerhaus Backnang vom Schicksal seiner Schwester und seines Schwagers, einem Pakistani, und deren verzweifelter Liebe.

Joachim Zelter sagt, dass es sich bei seinem Roman um eine Fiktion handele und dieser nicht die Fakten getreu wiedergebe. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Joachim Zelter sagt, dass es sich bei seinem Roman um eine Fiktion handele und dieser nicht die Fakten getreu wiedergebe. Foto: A. Becher

Von Carmen Warstat

Backnang. Vom „Recht des Fremdlings“ handelt Joachim Zelters neuer Roman. Zum Abschluss seiner Lesung daraus beruft sich der Autor auf Immanuel Kant, der einst formulierte, dass „hier nicht von Philanthropie, sondern von Recht die Rede“ sei und dass „niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat als der andere“. Das Zitat hat Zelter der „Verabschiebung“ als Motto vorangestellt, es wird mit Applaus bedacht.

Die Zuhörer: betroffen, schockiert, sprachlos. Sie machen etwas zögerlich Gebrauch vom Angebot, sich zum Gehörten zu äußern oder Fragen zu stellen. Jemand möchte wissen, wie der Autor recherchiert hat, und erfährt, dass das Schicksal des Romanprotagonisten so ähnlich dem Schwager des Autors widerfahren ist. Man kann spüren, dass Zelter selbst erschüttert ist, noch ein Dreivierteljahr nach dem Erscheinen eines Buches, das ebenfalls mit Sprachlosigkeit kämpft, daher die kurzen Sätze, sagt er und spricht vom Dilemma beim Schreiben: „Man ist sprachlos, muss aber schreiben.“ Beim Schreiben erst habe er richtig erfahren, was seine Schwester durchgemacht hat.

Für den Romantitel hat der Autor die Worte Abschied und Abschiebung übereinandergelegt und den Begriff „Verabschiebung“ kreiert, für eine Praxis, die das eine nicht vorsieht (Verabschiedung), wenn sie das andere durchsetzt (Abschiebung).

Faizan hat keine Chance auf Asyl,

denn er kommt aus Pakistan

Das Paar: Julia und der Asylbewerber Faizan. Joachim Zelter schildert das Kennenlernen der beiden, die sanfte Melancholie darüber, weil der viel jüngere Mann ihre Traurigkeit fühlt und anspricht, weil die Frau sich (seit Jahren zum ersten Mal) verstanden fühlt, und von jemandem, der ihre Sprache nicht versteht. Julia ist „Akademikerin“, wie ein Beauftragter der Ausländerbehörde (Herr Zöllner) messerscharf erkennen wird, und sie ist gegen die Ehe – eigentlich. Die Literaturkennerin sammelt Zitate und verehrt Oscar Wilde, da ist es unschwer zu erraten.

Aber Faizan hat keine Chance auf Asyl in Deutschland, denn er kommt aus Pakistan, und: „Pakistan, das sei ja nicht Syrien, das komme nicht in den Abendnachrichten...“ Der „Tipp“, ihn zu heiraten, kommt vom Anwalt, und Julia sträubt sich, es sträubt sich in ihr, aber: Eine Scheinehe wird es nicht. Sie ist verliebt, und er? „Er liebe sie, er habe sie immer geliebt, er werde ihr das nicht zumuten.“ Die Heirat. Die „Zwangsehe“. Denn, so Julia, der Staat zwänge sie, der Kleine Prinz mit seiner Definition von Verantwortung, Faizans Angstzustände und die eigene Schlaflosigkeit zwängen sie. Sie heiraten. Nach zermürbenden Rollenspielen zur Vorbereitung der „Anhörung“, nach entwürdigenden Monaten und Jahren, nach dem „Fall ins Bodenlose“.

Schonungslos macht Zelter den quälenden Wahnsinn erbarmungsloser „Anhörungen“ und von eiskalten „Prüfungen“ des Verdachts der „Vortäuschung einer ehelichen Lebensgemeinschaft zur Erlangung eines Aufenthaltstitels“ erlebbar, und präzise, unmissverständlich, in hautnahem Stakkato das Grauen der eigentlichen Abschiebung.

Eine Fiktion sei dieser Roman und nicht „die faktengetreue Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse“, heißt es in einer Vorbemerkung des Autors, der hier auf Thomas von Aquin Bezug nimmt: „Die Fiktion verkörpert die Wahrheit“, und Zelter erklärt: „Eine literarische, menschliche und gesellschaftliche Wahrheit...“ Und er meint hier sicher auch die Tatsache, dass sein Schwager (im Unterschied zur Romanfigur) nach etwa einem Jahr zurückkommen darf nach Deutschland, weil „ein Sturm der Entrüstung“ ihn rettet, weil ein einflussreicher Politiker sich für ihn einsetzt, weil die Politik, deren Beliebigkeit wir so oft beklagen, „in diesem Fall einen Unterschied gemacht“ hat, wofür er dankbar ist, sehr dankbar, weil er weiß: Ohne diese Öffentlichkeit hätten seine Schwester und sein Schwager keine Chance gehabt.

„Deutschland, das freundlichste Land,das er jemals erlebt hat“

So viel also zum Verhältnis von Fiktion und Wahrheit oder Imagination und Faktizität. Die Realität mitteleuropäischer Verhältnisse wird tief beeindruckend und unwiderlegbar verdeutlicht, wo der Autor Joachim Zelter sie kontrastiert zur Lebens- und Erfahrungswelt der Fremden, wo er deren Wahrnehmungsperspektive einnimmt, zum Beispiel, wenn der Fremde, der Deutschland trotz allem und „alles in allem das freundlichste Land, das er jemals erlebt hatte“ nennt, lernt, dass hier alles zu viel ist: das Leben, die Steuern, die Abgaben, die Staus, der Verkehr, die Arbeit, die Fremden. Oder am Flughafen, wo die Rollkoffer der ersten Urlauber zur morgendlichen Abschiebestunde alles „überrollten“.

Infos zum P.E.N.-Zentrum

100. Jahrestag Es handelte sich bei der Veranstaltung um eine der „Lesungen in alle Himmelsrichtungen“, die das Deutsche P.E.N.-Zentrum anlässlich des 100. Jahrestages der Gründung der Vereinigung von Schreibenden organisiert.

Solidarität Weltweit setzt sich der P.E.N. (Poets, Essayists, Novelists) für die Freiheit des Wortes ein und übt Solidarität mit verfolgten Schreibenden.

20 Lesungen Irene Ferchl, selbst Angehörige des P.E.N., teilte mit, dass für Baden-Württemberg insgesamt 20 Lesungen finanziert und realisiert werden konnten.

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Erstellt:
9. November 2021, 11:30 Uhr

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