Buchtipp Architektur
Carlo Scarpa, der Poet unter den Architekten
Ob Banken, Villen oder Friedhöfe – seine Bauten wirkten stets wie von einer anderen, schöneren Welt. Ein opulenter Fotoband erinnert nun an das faszinierende Schaffen des italienischen Ausnahme-Architekten Carlo Scarpa.
Von Tomo Pavlovic
Nur wenige Architekten finden den Eingang vom Vorhof der Kultur in die heiligen Hallen der Kunst. Carlo Scarpa allerdings gehörte unbestritten zu jenen Begnadeten seines Fachs, die wie nur selten andere das Profane adeln konnten. Der detailversessene, 1978 verstorbene gebürtige Venezianer baute nicht viel, doch was er hinterließ, fasziniert bis heute. Formal wurde er der organischen Architektur des 20. Jahrhunderts zugerechnet, deren berühmter Vertreter Frank Lloyd Wright ihm ein Vorbild war. Die beiden begegneten sich persönlich im Jahre 1951. Und doch war der Italiener ein Solitär, der letztlich keiner Schule folgte und dessen Werk rückblickend dem Genius eines Le Corbusier und Alvar Aalto ebenbürtig ist.
Carlo Scarpa wurde 1906 in Venedig geboren und studierte Architekturdesign an der Accademia di belle arti di Venezia. 1926 schloss er sein Studium ab und unterrichtete Architekturzeichnung an eben dieser Akademie, an der er später neben seiner Arbeit als Architekt viele Jahre dozierte. Zur gleichen Zeit begann Scarpa mit seiner Karriere als Industriedesigner und Innenarchitekt.
Spiel mit den Dimensionen
Die Architektur Scarpas kennzeichnet eine große Feinfühligkeit gegenüber der unmittelbaren Umgebung als auch der Gesellschaft. Sein sensibler Umgang mit Farben und unterschiedlichsten Materialien verblüffen. In seinen Gebäuden weitet sich der Raum, wird die Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren, mehr noch von dem „da Oben“ und jenem „dort Unten“ flüchtig, durchscheinend. Er liebte offensichtlich den Effekt, das Spiel mit den räumlichen Dimensionen. Der Raum wird transzendiert, um frei zu sein, befreit von Herkunft und Klasse.
Doch bei all der Offenheit bleibt Scarpa auf der Baustelle eher ein Architekturpoet als ein Sozialreformer. Zu seinen wichtigsten Projekten zählen die Canova Plaster Cast Gallerie in Possagno (Treviso) (1955-1957), der Olivetti Showroom auf dem Markusplatz in Venedig (1957-1958) und die Banca Popolare in Verona, mit deren Entwurf Scarpa 1973 begann und die nach seinem Tod von Arrigo Rudi fertig gestellt wurde. Seine wenigen Villen in Zürich und in Udine sind wunderbar proportioniert und Grunde perfekt ausgestattet, eben weil der Architekt auch ein hochbegabter Interior Designer war.
Nach dem Krieg wurde Scarpa (1906 bis 1978) zu einem der wichtigsten Architekten und Architekturlehrer Italiens, auch wenn heutzutage nur noch wenige seinen Namen kennen. Interessanterweise ist Scarpa hingegen allen Glaskennern ein Begriff. Während des Faschismus ging er sich nämlich in die Manufakturen von Murano in eine Art innere Migration. Von 1932 an arbeitete er für die Manufaktur Venini, bis 1947 war er hier künstlerischer Direktor und experimentierte mit dem Glas.
Er hat diesem Material eine so unterschiedliche Form, Farbigkeit und Haptik geschenkt wie kaum ein anderer. Vielleicht ist diese Praxis der Grund, weshalb Scarpa vor allem auch als Innenarchitekt Räume dermaßen kenntnisreich und innovativ mit Scheiben und Fensterflächen ausstatten konnte, sodass das Glas sich von seiner eigentlichen Grundfunktion – dem bloßen Lichtdurchlass – emanzipiert.
Entrücktes Design
Der neue Fotoband „Carlo Scarpa. The Complete Buildings“ von Prestel feiert nun den Meister auf angemessene Art. Reich betextet (auf Englisch) und von dem Architekturfotografen Cemal Emden opulent bebildert hilft er allen spät geborenen Fans der elaborierten Baukultur, sich auf die Spuren der so großartigen und leider untergegangen Nachkriegsarchitektur Italiens zu machen. Scarpa war und bleibt einer der Helden dieser hochkreativen Phase. Seine Bauwerke sind Ausnahmeleistungen.
Am stärksten wirkte Scarpa nämlich dort, wo man die Architektur gar nicht vermutet, etwa auf einem Friedhof. Die Fotostrecke zu seinem entrückten Design des Bestattungsareals Tomba Brion in San Vito d’Altivole bei Treviso fasziniert. Der Park scheint wie von einer anderen Welt. Der Komplex – eine Art Gedenkstätte an den verstorbenen Gründer der Elektronikkonzerns Brionvega – wurde 1978 fertiggestellt.
Seinerzeit hatte Scarpa im Zuge der acht Jahre andauernden Planung und Ausführung mehr als 2200 Zeichnungen angefertigt, die bei der Sanierung der Trauerstätte vor zwei Jahren durch Guido Pietropoli, einem Schüler Scarpas äußerst hilfreich waren. Die Anlage hat etwas von einem verrätselten Meditationsgarten, in dem die Endlichkeit, vielleicht auch Sinnlosigkeit des Lebens auf überaus stilvolle Weise veranschaulicht wird.
Architektur als sinnliches, im besten Fall: übersinnliches Erlebnis, selbst für jene, die mit der ganzen Baukunst so gar nichts am Hut haben. Der Meister war letztendlich ein bescheidener Planer, sich stets bewusst, dass die beste Architektur eine ist, die einfach nur gut ist, ohne aufzufallen. „Wenn Architektur etwas taugt, wird eine Person, die hinschaut und zuhört, von ihr profitieren, ohne es überhaupt zu merken“, merkte Carlo Scarpa einmal an. Das ist so weise wie tröstlich.
Weitere Bilder von Scarpa und seinen Arbeiten in der Bildergalerie.
Info
Bildband Emiliano Bugatti, Jale N. Erzen: Carlo Scarpa. The Complete Buildings. Prestel-Verlag, 352 Seiten, 280 Abbildungen, 55 Euro.