Tiny House in Weil am Rhein
Das Minihaus der preisgekrönten Architektin Marina Tabassum
Die Architektin Marina Tabassum hat mit dem Khudi Bari ein kleines Haus entworfen, das wie eine Fachwerkhütte auf Stelzen ausschaut. Es ist leicht transportabel und bereichert den Vitra Campus in Weil am Rhein. Für wen ist das Haus gemacht und woran erinnert es?

© Julien Lanoo/Vitra
Das Khudi Bari – Kleines Haus – von Marina Tabassum bereichert die Architektur in Weil am Rhein.
Von Nicole Golombek
Minimalismus ist ein Glücksversprechen. Wenn man sich nur des zu vielen Besitzes entledige, gehe man leichter, froher durchs Leben, heißt es. Manche Menschen leben also heute freiwillig auf wenig Platz, besitzen wenige Dinge. Tiny House Vereine gründen sich landauf, landab, um sich über das Leben in Minihäusern auszutauschen, einander beim Finden der vor allem in Städten raren Restgrundstücken zu helfen.
Ein Tiny House in Weil am Rhein
In anderen Ländern gibt es auch Tiny Houses, die allerdings nicht aus der freiwilligen Lust am Verzicht entstehen, sondern als Notbehelf. In Bangladesch etwa häufen sich als Folge klimatischer Veränderungen Überschwemmungen, die Menschen zwingen, ein neues Zuhause zu suchen. Für derlei Katastrophen haben die vielfach ausgezeichnete Architektin Marina Tabassum aus Bangladesch und ihr Team ein Minihaus entworfen, genannt „Khudi Bari – Kleines Haus“.
Das Haus ist ein kostengünstiges Gebäude mit einem blechgedeckten Giebeldach, das von den Bewohnern selbst errichtet werden kann. Es besteht aus einer Bambus-Struktur, deren Ecken mit Stahlknotenpunkten verbunden werden. Diese Knotenpunkte legen die Geometrie des Hauses fest. Das kleinere der beiden Quadrate ist als Fundament im Boden eingegraben und versteift die Konstruktion. Das obere, größere bildet eine erhöhte Plattform für das Haus. Sobald die Struktur aufgebaut ist, kann mit stabilen Platten oder leichten Wänden ein Wohnraum geschaffen werden.
Das erhöhte Wohngeschoss bietet den Bewohnerinnen und Bewohnern bei plötzlichen Überschwemmungen einen sicheren Ort – und wenn das Ackerland verschwinden sollte, kann das Khudi Bari zerlegt, transportiert und an einem anderen Ort wiederaufgebaut werden. Eines dieser Häuser wurde jetzt in Weil am Rhein errichtet.
Es schaut auf den ersten Blick aus wie ein Fachwerkhaus auf Stelzen, passt also auch ganz gut in den Süden Baden-Württembergs an den Rande des Schwarzwaldes, wo es nun auch steht, auf dem Gelände des Vitra Design Museums.
Das Team von Marina Tabassum, so informiert Vitra, habe die Häuser zusammen mit Hilfsorganisationen und Gemeindegruppen in Bangladesch aufgebaut „und damit „bessere Lebensbedingungen für eine Bevölkerungsgruppe, die am absoluten Existenzminimum lebt, geschaffen. Es wurden bereits über einhundert Khudi Bari aufgestellt und weitere sollen folgen.“
In Weil am Rhein steht das Khudi Bari zu Besichtigungszwecken für Architekturinteressierte in dem Staudengarten des bekannten niederländischen Gestalters Piet Oudolf. Er erinnert daran, dass auch hierzulande der Klimawandel anderes, ökologischeres Bauen fordert – das darf dann wie bei diesem kleinen Haus mit gestalterischem Anspruch sein. Ein Besuch lohnt.
Info
ArchitektinMarina Tabassum studierte Architektur in Bangladesch. Ihr Debütprojekt war das Independence Memorial and Museum, ein symbolisches Gebäude, das 1995 in Partnerschaft mit Urbana entworfen wurde und den Unabhängigkeitskampf des Landes würdigt. 2005 gründete sie in Dhaka ihr eigenes Architekturbüro unter dem Namen MTA Architects, 2016 erhielt sie den Aga-Khan-Preis für die Bait-Ur-Rouf-Moschee. Für das zwischen 2011 und 2018 entworfene Panigram Resort arbeitete Tabassum mit ländlichen Gemeinden in Bangladesch zusammen und war an Gemeindeprojekten beteiligt, bei denen Architektur die Regionalentwicklung vorantreibt. Sie hat an Architektenschulen auf verschiedenen Kontinenten unterrichtet, von Harvard bis Toronto, von Yale bis Delft, wo sie aktuell eine Professur innehat.
Auszeichnungen Marina Tabassums Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Arnold Brunner Memorial Prize der American Academy of Arts and Letters, der Goldmedaille der französischen Akademie für Architektur, dem Lifetime Achievement Award der Architekturtriennale von Lissabon, einem Ehrendoktortitel der Technischen Universität München und der Soane-Medaille für Architektur in Grossbritannien.
Vitra Das Khudi Bari befindet sich am Ende des Oudolf Gartens und kann zu den regulären Öffnungszeiten des Vitra Campus täglich von 10-18 Uhr besichtigt werdenbesichtigt werden.

© Vitra/Julien Lanoo
Khudi Bari heißt das Gebäude, es bedeutet wörtlich „Kleines Haus“. Es ist eine sehr kostengünstige Leichtbaustruktur, die von Hand auf- und abgebaut werden kann – ohne Strom oder irgendeine andere Art von mechanischer Kraft.

© Vitra/Julien Lanoo
Es ist eine Struktur aus Dreiecken, die mit regionalen Materialien wie Bambus in Verbindung mit in Werkstätten vorproduzierten Stahlknotenpunkten gebildet werden. Die Knotenpunkte legen die Geometrie des Hauses fest.

© Vitra/Julien Lanoo
Das kleinere der beiden Quadrate ist als Fundament im Boden eingegraben und versteift die Konstruktion. Das obere, größere bildet eine erhöhte Plattform für das Haus.

© Vitra/Julien Lanoo
Der Vitra Campus in Weil am Rhein ist wegen seiner über die vergangenen vierzig Jahren entstandenen Architektur und seiner kulturellen Angebote zu einem öffentlichen Raum geworden ist, der jährlich hunderttausende von Besuchern empfängt. Zu besichtigen ist auch ein Gartenhaus von Tsuyoshi Tane und die Pflanzung eines Miyawaki-Waldes auf dem Gelände des Vitra Campus.

© Vitra/Julien Lanoo
Das erste experimentelle Khudi Bari wurde 2020 während der Pandemie in Dhaka gebaut. „Als ich während der Pandemie in meinem stillen Büro saß, schoss mir dieses Bild eines Hauses durch den Kopf und ich dachte: Das ist es! Ein einfaches Haus, das für eine besitzlose Familie erschwinglich ist und von einem Ort zum anderen transportiert werden kann“, sagt die Architektin Marina Tabassum. Hier in Weil am Rhein soll es unter anderem daran erinnern, das der Klimawandel auch in Europa ein anderes Bauen erforderlich machen dürfte.

© Vitra/Julien Lanoo
Vervollständigt wird das System durch ein blechgedecktes Giebeldach. Sobald die Struktur aufgebaut ist, kann mit stabilen Platten oder leichten Wänden ein Wohnraum geschaffen werden.

© Vitra/Julien Lanoo
Blick von oben auf das Haus. „Das Khudi Bari auf dem Vitra-Campus erinnert uns an die Fragilität unserer Existenz. Durch das natürliche Ökosystem – die Luft, das Wasser, das Licht und die Temperatur – sind wir alle miteinander verbunden“, sagt die Architektin Marina Tabassum. „Ein Ungleichgewicht, verursacht in einem Teil der Welt, wirkt sich auf einen anderen Teil aus: Die Menschen, die umziehen mussten und auf den Sandbänken leben, haben einen CO2-Fußabdruck von Null – und doch sind sie diejenigen, die unter der Klimakrise leiden.“

© Vitra/Dejan Jovanovic
Marina Tabassum und Rolf Fehlbaum. „Marina Tabassum kombiniert Entwürfe, die man von einer urbanen Architektin erwartet, mit Pro-Bono-Initiativen unter sehr schwierigen Bedingungen mit Gemeinden in abgelegenen Gebieten zusammen. Sie ist ein Vorbild für eine gesellschaftlich engagierte Architekturpraxis“, sagt Rolf Fehlbaum, auf dessen Initiative ein Khudi Bari auf dem Campus aufgestellt wurde – als Beispiel einer architektonischen Haltung und konkreten Antwort auf Probleme, die durch die Klimakrise verschärft werden.

© Marina Tabassum Architects/City Syntax
Das Team von Marina Tabassum hat die Häuser zusammen mit Hilfsorganisationen und Gemeindegruppen in Bangladesch aufgebaut und damit bessere Lebensbedingungen für eine Bevölkerungsgruppe, die am absoluten Existenzminimum lebt, geschaffen.

© Marina Tabassum Architects/Citry Syntax
Mehrere Khudi Bari wurden schon errichtet, weitere sollen folgen. Da die Bestandteile der Khudi Baris per Boot in entlegene Regionen angeliefert und oft auf unmotorisierten Karren durch die Sandbänke transportiert werden müssen, sind leichte Materialien erforderlich.

© Marina Tabassum Architects/City Syntax
Ein Khudi Bari verbraucht wenig Fläche. Das erhöhte Wohngeschoss bietet den Bewohnerinnen und Bewohnern bei plötzlichen Überschwemmungen einen sicheren Ort und . . .

© Marina Tabassum Architects/City Syntax
. . . wenn das Ackerland verschwinden sollte, kann das Khudi Bari zerlegt, transportiert und an einem anderen Ort wiederaufgebaut werden.

© Marina Tabassum Architects/Asif Salman
Khudi Bari in der Nacht. Die treibende Kraft dieser Projekte ist die Foundation for Architecture and Community Equity (FACE), eine Initiative, die von Marina Tabassum ins Leben gerufen wurde.

© Asif Salman/Marina Tabassum Architects
Marina Tabassum studierte Architektur in Bangladesch. Ihr Debütprojekt war das Independence Memorial and Museum, ein symbolisches Gebäude, das 1995 in Partnerschaft mit Urbana entworfen wurde und den Unabhängigkeitskampf des Landes würdigt. 2005 gründete sie in Dhaka ihr eigenes Architekturbüro unter dem Namen MTA Architects, 2016 erhielt sie den Aga-Khan-Preis für die Bait-Ur-Rouf-Moschee.

© Marina Tabassum Architects/Illustration
Entwurf des Khudri Bari. Das Gebäude kann leicht montiert und demontiert werden.