Neu im Kino
Der Film, der mehr ist als ein Film
Der Western „Rust“ kritisiert den amerikanischen Waffenfetisch und die Gewalt weißer Siedler im 19. Jahrhundert. Aber er handelt auch von miesen Arbeitsbedingungen in der modernen Kulturindustrie und dem tragischen Todesfall der Kamerafrau Halyna Hutchins.

© dpa/Rust Movie Productions/24 Bild
Harland Rust (Alec Baldwin) will seinen zum Tode verurteilten Enkel Lucas Hollister (Patrick Scott McDermott) retten.
Von Kathrin Horster
Nahschuss: Ein Augenpaar, durchdringender Blick, umsäumt von Falten, Schnitt. Nahschuss: Ein zweites, ernst blickendes Augenpaar, offenbar das eines Kindes. Schnitt. Ein Junge betrachtet den Himmel über sich, um ihn herum nur dürres Gras unter Wolken und die Weite der Prärie Wyomings. Der bevölkerungsärmste Bundesstaat der USA ist Teil des legendären Wilden Westens und wird auch als Cowboy State bezeichnet.
In Wyoming kämpften im 19. Jahrhundert weiße Siedler gegen verschiedene indigene Gruppen, die in dem Territorium ursprünglich lebten. Unzählige Filme und Abenteuerromane beschönigen die blutige Landnahme. Die amerikanische Rockband R.E.M. widmete 1997 dem Mythos einen Song mit dem bitteren Titel „How the West was won and where it got us“ – Wie der Westen eingenommen wurde und wohin uns das führte. Man kann sagen, zu nicht allzu viel Gutem.
Tragische Entstehungsgeschichte
Bis heute ist in etwa der Hälfte der 50 Bundesstaaten der USA noch die Todesstrafe Teil des Rechtssystems, der zweite Verfassungszusatz garantiert U.S.-Bürgern seit 1791 das Privileg, eine Waffe zu tragen. Nichts als Gewalt trieb die Ahnen heutiger Amerikaner um, erzählt auch Joel Souza in seinem so altmodischen wie kritischen Western „Rust“, der im Deutschen noch den Untertitel „Legende des Westens“ trägt. Obwohl Souza bewusst auf bekannte Erzählmuster und ästhetische Konventionen des Genres zurück greift – wie etwa auf die eingangs beschriebene, fast typische Schnittfolge sowie auf überwältigende Totalen endloser, leerer Landschaften – handelt „Rust“ mehr vom Zustand des modernen Amerika als vom historischen Wild-West-Mythos, den der Film hinterfragt. Das hat auch mit der tragischen Entstehungsgeschichte des Werks zu tun, bei dem manche zweifeln, ob es überhaupt auf einer Leinwand gezeigt werden sollte.
Der Plot von „Rust“ baut auf einer erschütternden Prämisse: Der Junge in der einsamen Landschaft ist der 13-jährige Lucas Hollister (Patrick Scott McDermott), nach dem Diphterie-Tod der Mutter und dem Selbstmord des Vaters mit dem Familiengewehr als Vollwaise mit dem sechsjährigen Bruder auf sich allein gestellt. Schutzlos sind die Kinder den herrischen Männern in der Gegend ausgeliefert. Versehentlich und letztlich in Notwehr erschießt der im Zuge eines Streits in die Enge getriebene Lucas einen wohlhabenden Rancher und soll dafür hängen.
Lucas’ totgeglaubter Großvater, der gesetzlose Harland Rust (Alec Baldwin), bekommt Wind von diesem Unrecht, und kidnappt den Jungen in einer Nacht- und Nebelaktion aus der Todeszelle des Sheriffs. Woraufhin eine erbarmungslose Hetzjagd mehrerer Kopfgeldjäger beginnt, die von Wyoming bis nach New Mexico zum finalen Showdown führt.
Nicht der schnörkellose Plot oder die Besetzung der titelgebenden Hauptrolle mit Alec Baldwin brachte das mit 7,27 Millionen US-Dollar schmal budgetierte Filmprojekt lange vor seiner Fertigstellung in die Schlagzeilen. Sondern der Unfall am 21. Oktober 2021 mit einer unwissentlich scharf geladenen, von Alec Baldwin bei Proben abgefeuerten Handfeuerwaffe, bei dem die Kamerafrau Halyna Hutchins zu Tode kam und Regisseur Joel Souza an der Schulter verletzt wurde.
Während der langwierigen Prozesse zur Klärung der Schuldfrage kamen die Dreharbeiten zum Erliegen, Baldwin, auch Produzent des Films, wurde mit Vorwürfen zur mangelhaften Sicherheit am Set konfrontiert. „Rust“ war kein Fall von Metoo, aber ein Paradebeispiel für Missmanagement und toxisch schlampige Arbeitsbedingungen in der Unterhaltungsbranche, wo die Verantwortlichen aus Zeit- und Geldmangel weniger auf Sicherheit und Rechte der Teammitglieder schauen als auf den egoistischen Traum, auch unter widrigen Bedingungen große Kunst zu produzieren.
Einfühlsame Charakterzeichnungen
Der Film selbst ist nicht der ganz große Wurf geworden, das Figurenpersonal ist hauptsächlich männlich, kernig, bärbeißig. Überzeugend arbeitet Souza aber die überzeitlich wirksamen Bedingungen von Gewalttätigkeit heraus; die Angst der Menschen, selbst Opfer zu werden durch die tägliche Anschauung dessen, was Opfern widerfährt.
Besonders einfühlsam gelingt Souza die Charakterzeichnung der Kinder, die der unbarmherzigen Härte der Erwachsenen ausgeliefert sind und in deren System aus Einschüchterung, Mord und Totschlag mitlaufen müssen, um zu überleben. Die Kritik des Films am amerikanischen Waffenfetisch und der seit Wild-West-Tagen ungebrochenen Gewaltbereitschaft, die bis heute den amerikanischen Staat und die nationale Identität des Landes prägt, schlägt mit dem Wissen um Halyna Hutchins’ sinnlosen Tod am Set umso härter ein – und scheitert genau da an den eigenen hehren Anliegen.
Rust: Legende des Westens. USA 2024. Regie: Joel Souza. Mit Alec Baldwin, Patrick Scott McDermott. 133 Minuten. Ab 12 Jahren
Würdigung im Abspann
Ursprung Als Inspiration diente Alec Baldwin und Joel Souza Clint Eastwoods Spät-Western „Erbarmungslos“ (1992) sowie die Geschichte eines Jungen, der 13-jährig als jüngster Mensch im 19. Jahrhundert gehängt wurde.
Dreh Das geringe Budget sorgte für Probleme am Set, Teammitglieder wehrten sich unter anderem gegen überlange Arbeitstage. Sieben legten am 21. Oktober 2021 die Arbeit nieder und wurden am selben Tag von nicht gewerkschaftlich organisierten, teils unerfahrenen Kräften ersetzt. Ein neuer Regieassistent übergab Baldwin die Waffe mit dem Hinweis, sie sei nicht geladen. Wie die scharfe Munition ans Set geraten war, blieb unklar.
Widmung Im Abspann des Films erscheint die Widmung „For Halyna“ und ein Zitat der geborenen Ukrainerin: „Wie können wir Dinge besser machen?“ Hutchins starb am 21. Oktober 2021 mit 42 Jahren.