Ergreifende Inszenierung einer alten Geschichte
Die Württembergische Landesbühne Esslingen präsentiert im Bürgerhaus „Herbstmilch“ nach der Autobiografie von Anna Wimschneider mit Barbara Stoll und Katja Uffelmann. Für die Theaterfassung und Regie ist Barbara Bräuning verantwortlich.
Von Renate Schweizer
BACKNANG. „Man kann sich das ja gar nicht vorstellen“ – immer wieder sagen sie das, kopfschüttelnd, „man kann sich das ja gar nicht vorstellen“ wie hungrig sie waren, die Kinder, immerfort hungrig, wie sie gefroren haben die Kinder, immerfort gefroren, wie müde sie waren, immerfort müde. Nein, man kann es sich gar nicht vorstellen, erst recht nicht die kleine Anna kann man sich vorstellen, die auf dem Schemel am Herd steht, um für den Vater, den Großvater und die acht Geschwister zu kochen, jeden Tag, jeden einzelnen Tag, den Gott werden lässt. Anna kocht und Anna wäscht und Anna flickt und Anna putzt – „Dirndlarbeit“ das alles: Mädchenarbeit.
Acht Jahre ist sie da alt und die Mutter ist tot. Man kann es sich nicht vorstellen, man will es sich auch gar nicht vorstellen, und doch entstehen von der ersten Minute dieser Inszenierung an die Bilder im Kopf, und man ist im Bann der Geschichte Annas, die gar keine Geschichte ist, sondern einfach ihr Leben. Denn eben weil man sich das alles gar nicht (mehr) vorstellen kann, hat Anna Wimschneider (geboren 1919) ihr Leben für die Enkeltochter aufgeschrieben, einfach so, in der Reihenfolge, wie alles halt so kam, vermutlich ohne jemals das Wort „Biografiearbeit“ oder dergleichen gehört zu haben. Ganz sicher wollte sie keine Kunst produzieren.
Wir, die wir gewohnt sind, zu glauben, dass wir das Leben gestalten können, dass wir unsere Geschichte immer wieder umerzählen können, dass wir uns neu erfinden können und dass wir entscheiden können, wer wir sein wollen (so fest glauben wir daran, dass der Kontrollverlust zum Beispiel durch eine Infektionskrankheit uns völlig aus der Bahn schleudern kann), wir sitzen fassungslos davor. Die Inszenierung ist coronagerecht sparsam: Zwei alte Tische auf Abstand, zwei Stühle und dahinter eine Wand mit zwei Holztüren – man könnte spekulieren: Eine zur Scheuer, eine zur Wohnstube. Man kann das Spekulieren auch bleiben lassen – die Türen werden nicht bespielt und überhaupt passiert wenig auf der Bühne: Barbara Stoll und Katja Uffelmann erzählen sich gegenseitig Annas Leben, lesen vor, fallen sich auch mal gegenseitig ins Wort und wissen besser, mal deutet die eine Annas Rolle an und mal die andere, dann wieder kommentieren sie einander in schönstem Bayrisch, selten stehen sie auf, einmal stellt sich Katja Uffelmann auf ihren Stuhl, das war’s. Audiotechnisch ist irgendwie der Wurm drin, die Mikros knarzen immer wieder – aber irgendwann vergisst man das, „das g’wöhnt man“, so wie Anna sich an Arbeit und Übermüdung „g’wöhnt“.
Bei der Premiere der Theaterfassung von Sabine Bräuning 2016 war wohl deutlich mehr Bewegung im Spiel, da quollen Massen von Schmutzwäsche aus den Rucksäcken der Brüder, sodass Anna fast darin unterging, und der Wettlauf ums Leben der Schlachtsau war wohl tatsächlich ein Wettlauf. Das fällt nun, Corona geschuldet, alles weg – und es fehlt einem nichts, ganz im Gegenteil, genau so muss es sein, genau so passt es zu der frappierenden Abwesenheit von Empörung oder gar Selbstmitleid oder überhaupt erkennbarer Emotion. Ab und zu weint Anna, im Winkel hinter der Küchentüre, das wird erzählt, nicht gezeigt, und es ist auch gar nicht so wichtig, denn es ändert ja nichts. Der Vater schlägt („so schnell schaugst gar net, wia der zuaschlagt“), die Brüder Michel, Franz und Hans schlagen, und am schlimmsten und härtesten schlägt der Pfarrer – Aua und weiter geht’s, die Arbeit wartet ja nicht, „man muss einfach machen, was am Besten ist“ – auch das so ein Satz, der immer wieder auftaucht. „Wir können unser Leben nicht selber gestalten. Das können wir nicht.“ So steht’s im Programmheft und so entspricht es Anna Wimschneiders Erfahrung, und nur so kann sie ihr Leben meistern. Aua und weiter geht’s. Die Schwiegermutter keift und intrigiert und wünscht ihr den Tod, die kleinen Kinder und die alten Leute scheißen sich die Hosen voll, und die Dampfnudeln fallen zusammen, wenn man den Topfdeckel lupft, „hau ihr eine runter, dann lernt sie’s“.
Erzählungen, die uns den Blick öffnen und viel Stoff zum Nachdenken hergeben.
Es ist zur Abwechslung mal wieder die vorläufig letzte Veranstaltung im Backnanger Bürgerhaus, und sie erzählt von einer Welt, die wir alle nur vom Hörensagen kennen, vielleicht nicht einmal das. Zwei Dinge, mindestens, gibt es da zu lernen und die Württembergische Landesbühne Esslingen (WLB) und Anna buchstabieren sie uns ins Herz:
Erstens: Anmut und Würde des Menschen sind nicht davon abhängig, dass eine ihr Leben unter Kontrolle hat und „gestaltet“. Anna wird von allen herumgeschubst in einer harten kalten Welt – ihrer Würde tut das keinen Abbruch, nicht mal so viel wie Dreck unter ihre kurz geschnittenen Nägel passt.
Zweitens: Wir brauchen das Theater, um uns solche Geschichten zu erzählen. Grade in schwierigen Zeiten, gerade wenn wir die (ohnehin nur scheinbare) Kontrolle zu verlieren drohen, grade wenn das Leben uns herumschubst, brauchen wir das Theater. Dringend. Grade jetzt und jetzt erst recht.