Premiere an der Esslinger Landesbühne

Fläschchen statt Flasche: Vier Männerbabys, der Alkohol und die Frauen

Ihnen fehlt die Frau: Die Regisseurin Jenke Nordalm lässt an der Esslinger Landesbühne vier große Männerbabys im „Rausch“ nach dem gleichnamigen Film von Thomas Vinterberg versinken.

Turnlehrer Tommy (Marcus Michalski, liegend) hat es umgehauen. Seine Kumpels Martin ­(Daniel Großkämper, links),  Peter (Reyniel Ostermann, Mitte) und Nikolaj (Felix Jeiter) ­bleiben unverdrossen feuchtfröhlich.

© Patrick Pfeiffer

Turnlehrer Tommy (Marcus Michalski, liegend) hat es umgehauen. Seine Kumpels Martin ­(Daniel Großkämper, links), Peter (Reyniel Ostermann, Mitte) und Nikolaj (Felix Jeiter) ­bleiben unverdrossen feuchtfröhlich.

Von Martin Mezger

In der Schule herrscht Geschlechtertrennung. Nicht bei den Schülern. Im Kollegium. Vier Lehrerkumpels strecken die Köpfe zusammen. Die Kolleginnen huschen vorbei. „Hallo!“ und kurze Grüße. Man redet nicht groß miteinander. Die Regisseurin Jenke Nordalm hat an der Esslinger Landesbühne den „Rausch“ nach Thomas Vinterbergs gleichnamigem Film gleich eingangs recht scharfsinnig auf eine tiefere Stufe menschlich-männlicher Entwicklungsdramen zurückdatiert, noch unter der Alkohol-Tragikomödie, deren Ursache sie ist. Die Szene im Lehrerzimmer deutet an: ein grundsätzliches Unverständnis zwischen Männern und Frauen, ein Beziehungsdesaster zwischen den Geschlechtern von Strindberg’schen Dimensionen. Peter, Martin, Tommy, Nikolaj: Jeder der vier Pädagogen der Midlife-Crisis – ihr wahres Unterrichtsfach – lebt dieses Desaster oder hat es erlebt. Auf eigene und doch vergleichbare Weise. Wie eine freundliche, lindernde Macht spürt man(n) den Sog der Männerfreundschaft – Trost, Zuspruch, gegenseitiges Verständnis – und bleibt zusehends unter sich. Und was tun Männer, wenn sie unter sich sind? Saufen.

Mit 0,5 Promille auf „Betriebstemperatur“

„Saufen“ lautet der Originaltitel von Vinterbergs Film, dessen Drehbuch er selbst zusammen mit Claus Flygare für die Bühne bearbeitet hat. Handlungsimpuls: Psychologielehrer Nikolaj kommt mit der These eines norwegischen Psychiaters daher (beide gibt’s übrigens wirklich), dem Menschen fehlten 0,5 Promille Alkohol im Blut zu seinem Glück. Also beschließen die vier innerlich im Dienst ergrauten Oberstudienräte, sich in einem dosierten und kontrollierten Experiment auf „Betriebstemperatur“ zu bringen. So wie manche Leute Blutdrucksenker nehmen. Oder Antidepressiva. Es folgen: Höhenflüge und Absturz, das Waterloo einer Illusion namens Microdosing.

Aber zunächst läuft es wunderbar. Beschwipst beschwingt flutscht ihr Unterricht, für den sich alle vier vorher insgeheim schämten. Es ist großartig, wie erkenntlich und lebensecht die vier Schauspieler in Nordalms Regie den pädagogischen Anspruch in der frustrierten Wirklichkeit versacken lassen. Preisgegeben haben sie diesen Anspruch nie, aber jetzt notiert er den Lehrern selbst das „Ungenügend“ ins Gewissen.

Daniel Großkämper, Marcus Michalski, Reyniel Ostermann und Felix Jeiter spielen Pädagogen als Kinder aufgeklärter Antiautorität. Mit ihren Schülern identifizieren sie sich auch dann, wenn die sturzbesoffen einen Nahverkehrszug zerlegen. Aber – und das wird in der präzisen Darstellung sehr deutlich – aus Empathie wurde Routine und aus Routine wird Sehnsucht, sobald König Alkohol sein Zepter schwingt: Sie wollen wieder werden wie Pennäler, die vier im tiefsten Grund verunsicherten Anfangsvierziger. Auf der Suche nach der verlorenen Jugendzeit lässt die Regisseurin statt Schubert’scher Klavierfantasie (wie im Film) harten Rock aufspielen, zu dem man die eingerosteten Knochen schütteln kann: auch dies ein in Euphorie verpackter Totentanz.

Was bereits abgestorben ist, stellt Daniel Großkämper als Geschichtslehrer Martin mit linkischer Bewegung und stammelndem Unterrichtsgespräch beklemmend deutlich dar – bevor ihm die Promille wieder auf die Sprünge und alten Schwünge helfen. Felix Jeiter zeigt als Nikolaj die passive Aggressivität hinter einem Rest an jovialer Fassade: Von der Welterklärung mit Kierkegaard schweift er flugs zur Selbstentblößung als pädagogische Methode, erzählt jedem, der es hören will oder auch nicht, und vor allem seinen Schülerinnen und Schülern von seinem sexuellen Frust wegen seiner ins Ehebett „pissenden“ Kinder. Hier spricht der schiere, entwürdigende Hass, und als Nikolaj auf dem Höhepunkt der Alkoholexzesse selbst einnässt, erklärt er das zum Racheakt.

Das Päckchen, das Marcus Michalskis Turnlehrer Tommy zu tragen hat, ist ein kindlicher, dauerfrustrierter Narzissmus: Den kann er pseudoironisch noch einigermaßen ausbalancieren, wenn er vom allersten Sieg der von ihm, der „Trainerlegende“, trainierten Bambini-Fußballmannschaft schwadroniert. Tragisch ohne pseudo aber sein Tod im Wasser. Mehr als die anderen brauchte er, was sie sich gemeinsam antrainiert haben: den Alk. Was Tommy unter günstigeren Umständen hätte sein können: Michalski lässt es – unaufdringlich und souverän – als Fallhöhe ahnen. Reyniel Ostermanns Musiklehrer Peter: ein Fall zwischen Missmut und Sensibilität, grundiert von nie bewältigter Hemmung. Bis der Alkohol alles löst in tanzender Lust und kotzendem Elend.

Aber was wird da gelöst? Jenke Nordalms Inszenierung geht im symbolisch-realen Schulturnhallenbühnenbild von Vesna Hiltmann dem fortgeschrittensten Stadium männlicher Unreife nach. Die vier großen Männerbabys bräuchten nicht die Flasche, sondern das Fläschchen. Ihnen fehlt die Frau, von der sie entweder getrennt sind (Tommy von Mette) oder die eine „Nachtschicht“-Affäre hat (Martins Anika) oder nur noch per Handyanweisung präsent ist (Nikolajs Gattin) oder die es – im Fall Peters – nie gab. Verdenken kann man es den Frauen nicht. Denn die Unfähigkeit, erwachsen zu werden, erzeugt, wie die klassische Tragödie, Furcht und fordert Mitleid. Das ist viel verlangt. Sogar für Anika (Kristin Göpfert mit beherrschter Verzweiflung), die trotz allem und mit den gemeinsamen Kindern (Lily Frank und Eva Dorlaß) als Geist des schlechten Gewissens und Beziehungsschutzengel zugleich um Martin ringt. Alles vergebens, in Nordalms Regie gibt es kein reifendes Erwachen. Martin kehrt zurück zum Alkohol. Er tanzt, befreit und verloren. Emanzipation als Regression. „Fatal“, wie ein Zuschauer treffend bemerkte.

Das Stück zum Film

Oscar Der dänische Film „Rausch“ – der Originaltitel lautet „Druk“ (Saufen) – des Regisseurs Thomas Vinterberg kam 2020 in die Kinos. 2021 erhielt er den Oscar als Bester internationaler Film sowie eine Oscar-Nominierung für die Beste Regie. Vinterberg gehörte in den 90er-Jahren neben Lars von Trier zu den Mitbegründern der Dogma-Bewegung mit ihrer puristischen Filmästhetik (einige der wichtigsten „Dogmen“: gedreht wird ausschließlich an den Originalschauplätzen, Aufnahmen werden nur mit der Handkamera gemacht, Spezialeffekte und Genrefilme sind tabu). Das Drehbuch zu „Rausch“ hat Vinterberg zusammen mit Tobias Lindholm verfasst. Mit Claus Flygare als Co-Autor bearbeitete es Vinterberg selbst für die Bühne.

Vorstellungen21. März, 10. April, 17. und 24. Mai, 6. und 24. Juni, 2. Juli im Esslinger Schauspielhaus.

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Erstellt:
21. März 2025, 15:22 Uhr
Aktualisiert:
21. März 2025, 15:45 Uhr

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