Neu im Kino: „Wilder Diamant“

Frauen-Porträt: Kurzes Glück im modernen Prekariat

Liane liebt Plastik in ihrem Körper und träumt von einer Influencer-Karriere: Agathe Riedingers Frauen-Porträt „Wilder Diamant“ erzählt von Armut und Hoffnung im modernen Prekariat.

Silikonbrüste, starkes Make-Up  und die Hoffnung auf eine Influencerinnen-Karriere: Malou Khebizi als Liane in „Wilder Diamant“

© Silex Films

Silikonbrüste, starkes Make-Up und die Hoffnung auf eine Influencerinnen-Karriere: Malou Khebizi als Liane in „Wilder Diamant“

Von Kathrin Horster

Für Reiche ist die Côte d’Azur ein fantastischer Ort, Arme leben dort genauso schäbig wie überall sonst auf der Welt. Dass im Langfilmdebüt „Wilder Diamant“ der französischen Musikvideo- und Kurzfilm-Regisseurin Agathe Riedinger permanent die Sonne scheint, ändert daran nichts; der Alltag von Riedingers ungestümer Protagonistin Liane (Malou Khebizi) bleibt perspektivlos und trist. Eine Zeit lang hat Liane im Heim gelebt, inzwischen wohnt sie wieder bei ihrer notorisch verschuldeten Mutter, mit der sie sich nicht versteht, und der kleinen Schwester, um die sie sich liebevoll kümmert. Die meiste Zeit streunt Liane aber herum, klaut Kopfhörer und Billigparfum am Flughafen, um das Zeug auf der Straße zu verhökern. Ihre Freundinnen sind wie sie nicht einmal Zwanzig und schon Mutter, eine von ihnen arbeitet in einem Nagelstudio. Doch Liane hält nicht viel von konventioneller Arbeit. Stattdessen präsentiert sie sich als angehende Influencerin mehreren hundert Fans bei Instagram mit lackierten Krallen, aufgemalten Augenbrauen und überdimensionierten Silikonbrüsten. Als nächstes will sie ein Po-Implantat.

Eine kleine Chance auf Wohlstand

In den Augen gut situierter Normalbürger ist Lianes Obsession für Plastikkörperteile und übertriebene Kosmetikroutinen ein Alptraum. Doch genau darin sieht Liane ihre einzige Chance auf eine Zukunft im Wohlstand, die mit dem lang ersehnten Anfruf einer Casting-Agentur gekommen zu sein scheint, Liane könne sich für die nächste Staffel einer Reality-TV-Show namens „Miracle Island“ vorstellen. Die freundliche und bemühte Dame bei der Arbeitsagentur, wo Liane auch noch vorsprechen muss, lässt die Schulabbrecherin dagegen abblitzen.

Mit ihrem Frauen-Porträt „Wilder Diamant“ knüpft Agathe Riedinger an eine Linie hart realistischer Sozialdramen der letzten Jahre an, von Filmschaffenden wie Andrea Arnold oder Sean Baker, die in Filmen wie „American Honey“ und „The Florida Project“ von der Not der amerikanischen Unterschicht in der Zeit um die Weltfinanzkrise von 2007 und 2008 erzählten. Anders als Sean Baker oder Andrea Arnold versucht Agathe Riedinger heutige Armutsformen jedoch nicht als konkrete Folge einer politischen oder wirtschaftlichen Misere einzuordnen, sie beschreibt sie bloß als Teil der Gegenwart. Lianes Vorstellung von sozialem Aufstieg sieht sie als Erscheinung des Zeitgeistes, der seine moralischen Werte, Schönheits- und Bildungsideale nicht in Religion, Literatur und Kunst postuliert, sondern Online in Sozialen Netzwerken und TV-Shows. Was vielen Bessergestellten mehr Travestie als ernsthafter Lebensentwurf ist, sieht Liane als Traumkarriere und Fluchtpunkt aus der Prekariatshölle.

Grundsätzlich läuft Riedinger Gefahr, ihre Liane vorzuführen und zu verraten, weil sie ihr Publikum kaum bei jenen finden wird, die sie im Film repräsentiert, sondern bei den Wohlständigen, die mit ihren Abschlüssen und Ausbildungen im Rücken all das als grell und banal bewerten, was Liane begeistert. Wenn sie sich künstliche Konturen mit dunklen Make-Up-Stiften ins Gesicht malt oder ihrer Schwester im Grundschulalter laszives Hinternwackeln als Tanz beibringt, kann man das komisch und grotesk finden.

Ernste Betrachtung ohne Bewertung

Agathe Riedinger versucht aber die existenzielle Bedeutung von Schönheit im Leben von Liane nachvollziehbar zu machen und ihre Heldin so vor dem Vorurteil zu retten, sie sei dumm und oberflächlich. Wenn Liane im Club Go-Go-Tänzerinnen zusieht, die in Strahlen blauen Lichts baden, unterlegt Riedinger die Szene mit strenger Cello-Musik und überhöht diese Momente zu spirituell-kontemplativen Erfahrungen.

Und wenn Liane die Kommentare ihrer Instagram-Follower liest, liegen die teils bewundernden, teils vernichtenden Zeilen als Schrifttafeln in eleganten Versalien über den Bildern. Außerhalb des Social-Media-Kontextes klingen die Zeilen gebetsartig, so absolut und ehrfürchtig formulieren die Fans.

Ernst betrachtet Riedinger auch die sich anbahnende Romanze zwischen Liane und Dino (Idir Azougli), der davon träumt, eines Tages eine Bauruine im Ort zu kaufen, um sich dort sein eigenes Refugium zu schaffen. Für Liane sind Dinos Träume aber zu klein, einmal beobachtet sie ihn, wie er die Kindermofas auf dem Renngelände seines Bruders säubert, und wendet sich ab. Ihren Freundinnen, die sich mit ihren Billigjobs und dem Dasein als Hausfrau und Mutter abgefunden haben, erklärt sie, sein Schicksal müsse man sich erarbeiten, den Rest erledige Gott.

Ob sich Lianes Traum von einer Karriere als TV-Celebrity und Influencerin tatsächlich erfüllt, hält Agathe Riedinger im Ungewissen. Wie die moralische Bewertung, ob dieser Lebensweg wirklich mehr bereit hält als ein paar schnell verpuffte Momente von Glückseligkeit.

Wilder Diamant. Frankreich 2024. Regie: Agathe Riedinger. Mit Malou Khebizi, Idir Azougli. 103 Minuten. Ab 12 Jahren.

Film in Cannes

HeldinErste Schauspielauftritte hatte Malou Khebizi in zwei Kurzfilmen, in „Wilder Diamant“ gibt die Schauspiel-Laiin ihr Leinwand-Debüt. Der Film wurde in den Offiziellen Wettbewerb bei den Filmfestspielen von Cannes eingeladen.

Macherin2018 hatte Agathe Riedinger den 23-minütigen Kurzfilm „J’attends Jupiter“ gedreht, in dem sie erstmals die Geschichte der von Reality-Shows besessenen Liane erzählte. Der Kurzfilm kam in die Vorauswahl für den französischen César, die damalige Darstellerin der Liane, Sarah-Megan Allouch, wurde beim Europäischen Kurzfilmpreis in Nizza ausgezeichnet. Agathe Riedinger beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Plastische Chirurgie, das sie auch im Kurzfilm „Eve“ (2019) verarbeitete. Aktuell arbeitet sie an einem Werk über zwei Frauen in einer Transgender-Kabarett-Revue.

Szene aus „Wilder Diamant“

© Silex Films

Szene aus „Wilder Diamant“

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© Silex Films

Szene aus „Wilder Diamant“

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© Silex Films

Szene aus „Wilder Diamant“

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© Silex Films

Szene aus „Wilder Diamant“

Szene aus „Wilder Diamant“

© Silex Films

Szene aus „Wilder Diamant“

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© Silex Films

Szene aus „Wilder Diamant“

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Szene aus „Wilder Diamant“

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Erstellt:
11. Dezember 2024, 13:54 Uhr

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