Herbstlyrik und Saitenspiel im Backnanger Bürgerhaus

„Ein Abend über Erntedank und Vergänglichkeit“ nannte sich die Lesung. Klaus Hemmerle rezitierte und sang zu Fank Kurucs Gitarrenspiel.

Bei der Lesung „Die Herbstzeitlose – ein Abend über Erntedank und Vergänglichkeit“ rezitiert Klaus Hemmerle (rechts) zahlreiche Gedichte, unterstützt vom Gitarrenspiel von Frank Kuruc. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Bei der Lesung „Die Herbstzeitlose – ein Abend über Erntedank und Vergänglichkeit“ rezitiert Klaus Hemmerle (rechts) zahlreiche Gedichte, unterstützt vom Gitarrenspiel von Frank Kuruc. Foto: Tobias Sellmaier

Von Carmen Warstat

BACKNANG. Der erste Literarische Salon der Saison im Foyer des Bürgerhauses („Die Herbstzeitlose“) spannte sowohl textlich als auch musikalisch den Bogen über Jahrhunderte und übertrat ganz bewusst und genussvoll Genregrenzen. Denn „Genießen, ja genießen!“ ist mit Theodor Storm („Oktoberlied“) gerade im Herbst, der Zeit der Weinlese und Ernte, mit einer milder gewordenen Sonne, mit seinen Nebeln und den aufkommenden Winden die Devise.

Von herbstlichen Naturbetrachtungen bis zu tragischen Protagonisten

Von Fülle ist da die Rede und von Abschieden, von langen Nachmittagen und Toden, von Äpfeln und Birnen und Korn – „Herr, es ist Zeit“. Rainer Maria Rilkes erhabener „Herbsttag“, den manche im Publikum leise mitsprechen, fehlt ebenso wenig wie Gottfried Benns „Astern“, Friedrich Hölderlins „Hälfte des Lebens“ oder Kurt Tucholskys eher heitere „fünfte Jahreszeit“. Der große biografische Bogen wird gespannt von noch recht unbekümmerter Naturbetrachtung eines zugleich unbestritten genialen Johann Wolfgang von Goethe („Herbstgefühl“) bis hin zu den tragischen Protagonisten deutschsprachiger Literaturgeschichte, einem erschütternd düsteren Georg Trakl („In den Nachmittag geflüstert“) und einem vom Entsetzen des Holocaust gezeichneten Paul Celan (als Übersetzer unter anderem von William Shakespeares „Sonett V“). Wenn Klaus Hemmerle Hölderlins „Im Winde klirren die Fahnen“ aus dem Gedicht „Hälfte des Lebens“ wiedergibt und das markerschütternde „Die Mauern stehn sprachlos und kalt“ mit gleichsam gefrierender Stimme spricht, werden des Dichters Transzendenz vom Privaten ins Politische, seine ungeheure Weitsicht und andauernde gesellschaftliche Aktualität veranschaulicht. Und wenn der Sprecher eines der Hölderlin’schen Turmgedichte („Wenn über dem Weinberg es flammt“) kurz darauf folgen lässt, wird angedeutet, dass der Dichter eben an dieser Transzendenz zerbrochen ist.

Musikalische Gestaltung durch Frank Kuruc

Sehr viel deutsche und deutschsprachige Literatur kommt an diesem milden Oktoberabend im Bürgerhaus zu Gehör. Dem steht eine musikalische Gestaltung gegenüber, die nun auch geografisch weiter ausholt. Zu Frank Kurucs Eigenkompositionen („Impro“ und „Weltende“) werden zum Beispiel The Doors („Riders on the Storm“) oder Tom Waits („The Last Rose Of Summer“) und ein amerikanisches Traditional („Freight Train“) zugesellt. Voll wie die letzten Früchte aus Rainer Maria Rilkes „Herbsttag“ klingen Kurucs Gitarrensaiten manchmal. Und manchmal klingen sie experimentell suchend, Gelesenes kommentierend oder einfach im Rausch der Musik schwelgend. Auch Klaus Hemmerle unterstützt musikalisch: Er singt, und gar nicht schlecht, „September of My Years“ von Sammy Cahn und Jimmy van Heusen und wagt sich auch an Tom Waits’ „The Last Rose of Summer“ heran.

Gegen Ende der Veranstaltung berichtet Klaus Hemmerle von einer Dame, die ihn in der Pause im Foyer angesprochen und kritisiert habe, dass im Programmflyer nur zwei Dichterinnen vorkamen (Sarah Kirsch mit „Laute Musik“ und Hertha Kräftner mit „Die Eltern im Herbst“). Schuldbewusst und zugleich humorvoll bezeichnete der Sprecher sich unter dem wohlwollenden Gelächter des Publikums als weißen alten Mann, den, wenn der Herbst kommt, der Tunnelblick heimsuche. Er gelobte Besserung.

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Erstellt:
4. Oktober 2023, 11:00 Uhr

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