Inszenierung des Musicals Hair im Bürgerhaus wirft Fragen auf

Die Aufführung des Musicalklassikers Hair im Backnanger Bürgerhaus bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Hippiebewegung und dem Ukrainekrieg. Die Songs sind grandios und packend und werden toll gesungen. Doch die gesprochenen Zwischentexte sind zu viel des Guten.

Während das Bühnenbild sehr spartanisch ausgefallen ist, ist das Musical zu sehr mit Inhalten vollgestopft. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Während das Bühnenbild sehr spartanisch ausgefallen ist, ist das Musical zu sehr mit Inhalten vollgestopft. Foto: Tobias Sellmaier

Von Marina Heidrich

Backnang. Schon lange war das Backnanger Bürgerhaus nicht mehr ausverkauft. Johannes Ellrott, Kulturamtsleiter der Stadt Backnang ist begeistert und begrüßt am Sonntag ein gespanntes, erwartungsvolles Publikum, darunter einige Menschen mit Blumen im Haar, Schlaghosen und Paisleymuster auf der Kleidung. Auf dem Programm steht das Musical Hair. 1968 schufen die Autoren Gerome Ragni und James Rado sowie der Komponist Galt MacDermot das Bühnenwerk um eine Gruppe Hippies in Zeiten des Vietnamkriegs als Spiegelbild einer Gesellschaft im Umbruch. Lange Haare galten als Zeichen der Freiheit, der Revolution und des Widerstands gegen eine Gesellschaft, die ihre Jugend in unsinnigen Kriegen verheizte. Ein Thema, das mit Aufkommen des Ukrainekriegs in Europa wieder traurige Aktualität gewonnen hat.

Die Vorfreude des Publikums ist nach der langen Coronapause deutlich spürbar

Hair ist eines der erfolgreichsten Musicals überhaupt und ein Meilenstein der Popkultur. Die eingängigen Melodien sind zeitlos und begeistern auch heutzutage noch. Das Publikum im Bürgerhaus ist gespannt, erwartungsvolle Vorfreude ist deutlich spürbar. Dann geht es los. Gleich zu Beginn stürmen vier Stars-and-Stripes-Flaggen schwingende Personen auf die Bühne, einer trägt ein Schamanenkostüm mit Büffelhörnern. Sie skandieren „Wir sind Patrioten! Wir wollen unser Land zurück!“ und man hat plötzlich ein Déjà-vu: der skandalöse Sturm auf das Kapitol. Ein spannender Beginn, der einen Bezug zur heutigen Zeit und den Bogen zwischen den Konflikten der 1960er- und der 2020er-Jahre herstellt. Und dann geht irgendwie alles schief. Zu gut meinen es Regisseur und Drehbuchautoren. Zu viel wollen sie in das Thema hineinpacken. Die Hippietruppe um den Anführer Berger tritt auf – in den Songs grandios und packend, toll gesungen. Doch die gesprochenen Zwischentexte sind zu viel des Guten. Man hätte den Ukrainekrieg locker in das Thema verweben können, doch die Verantwortlichen packen gleich alle aktuellen Probleme auf einen Schlag hinein. Transgender, Homophobie, Tierwohl, Erderwärmung, Umweltzerstörung, Rassismus, Sexismus, die Pandemie und, und, und – man kommt kaum noch mit, alles wird angerissen, Wortfetzen fliegen einem um die Ohren und der Mann am Mischpult hat zu Beginn deutlich Schwierigkeiten mit den zugegeben nicht leichten akustischen Bedingungen des Bürgerhauses. Die Soloparts der Sänger sind zu leise im Vergleich mit den Chören. Nach einiger Zeit bekommt man die Technik jedoch in den Griff.

„Hätten die nicht wenigstens Perücken tragen können?“

An das mehr als spartanische Bühnenbild kann man sich gewöhnen, auch an die pausenlosen zeitgenössischen Anspielungen auf Star Wars, Donald Trump und den etwas inflationären Gebrauch des Wortes „Fuck“. Auch die Hip-Hop-Klamotten der Darsteller sind akzeptabel und sind sofort vergessen, wenn die stimmlich sehr guten Sänger endlich die Songs aus dem Musical interpretieren. Allerdings wirkt es befremdlich, dass ausgerechnet der Titelsong Hair, in dem immerhin das ultimative Zeichen der Rebellion schlechthin, nämlich die langen Haare, besungen werden, von hübschen männlichen Darstellern mit geschniegelten, sorgfältig gestylten Kurzhaarfrisuren besungen werden. Ein Umstand, den die Zuhörer in der Pause zu Recht kritisieren. „Hätten die nicht wenigstens Perücken tragen können? Das sind doch Schauspieler, die müssten das doch gewohnt sein“, moniert eine Dame, die sich als leidenschaftlicher Hair-Fan bezeichnet.

Die Vietnamszene ist eindrucksvoll umgesetzt

Der zweite Teil nach der Pause funktioniert dann besser in der Umsetzung, es wird weniger geredet und mehr gesungen. Obwohl auch hier eine sehr freie Interpretation irritiert. Im Original opfert sich Berger, der Anführer der Hippiegruppe, indem er den Platz seines Freundes Claude bei der Einberufungsbehörde einnimmt, damit dieser eine Liebesnacht mit dem Mädchen Sheila wahrnehmen kann. Er wird an Claudes Stelle nach Vietnam geschickt und dort getötet. Die Vietnamszene ist auf der Bühne sehr eindrucksvoll umgesetzt – nur dass statt Berger in Backnang Claude stirbt. „Als würde man die Story der Beatles verfilmen und dann statt John Lennon einfach Paul McCartney erschießen“, meint ein Zuschauer. Es ist eine sonderbare Inszenierung. Bei weitem nicht schlecht, immerhin gibt es am Schluss stehende Ovationen. Denn die Songs funktionieren auch heute noch, sie sind großartig. Aber die Aufführung an sich ist irritierend. Gut gemeint. Irgendwie das musikalische Pendant zu veganem Schnitzel. Gesellschaftlich korrekt. Es sieht aus wie Fleisch, es riecht wie Fleisch, man beißt voller Erwartung hinein. Das kann sehr lecker sein, wenn man kein echtes Fleisch erwartet. Dann bleibt ein seltsames Gefühl im Mund.

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Erstellt:
25. Oktober 2022, 14:00 Uhr

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