„F*** you, Woyzeck“ im Klassenzimmer

Junges Ensemble Stuttgart provoziert mit Theaterstück über Femizide

Das Junge Ensemble Stuttgart spielt auch mitten im Klassenzimmer. „F*** you, Woyzeck“ ist alles andere als braves Theater, sondern rebellisch und provokant.

Carmen Yasemin Ipek und Nadja Rui spielen mitten im Klassenzimmer.

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Carmen Yasemin Ipek und Nadja Rui spielen mitten im Klassenzimmer.

Von Adrienne Braun

Theatergänger kennen es: Am Ende der großen Dramen ist eigentlich immer irgendjemand tot – erstochen, erwürgt oder vergiftet. Die Schauspieler rollen die Augen und zucken ein letztes Mal theatralisch und wenn Theaterblut fließt, dann reichlich. „Irgendwie heftig, so zu sterben“, sagt Marie, der es jetzt ebenfalls gleich an den Kragen gehen wird, weil sie mit einem anderen getanzt hat und Woyzeck sie dafür mal wieder ermorden wird – wie es seit mehr als hundert Jahren regelmäßig auf Theaterbühnen passiert.

Diesmal allerdings wird Marie von ihrem „Liebsten“ zwar auch im Gebüsch kaltblütig ermordet, doch Carmen Yasemin Ipek nimmt es mit Humor – und steht gleich schon wieder an der Tafel und schreibt die Namen der Frauen auf, die in der Weltliteratur meistens nur sterben dürfen: Luise, Desdemona, Emilia und wie sie alle heißen. Häufig werden sie von ihren Männern ermordet. Femizid nennt sich das heute.

Es ist eine ungewöhnliche Theaterproduktion, die das Junge Ensemble Stuttgart nun für Jugendliche herausgebracht hat. „F*** you, Woyzeck“ fleddert Georg Büchners literarische Vorlage mit feministischem Furor. Das Stück wird in Schulen gespielt, mitten im Klassenzimmer – wie diesmal hier im Stuttgarter Wagenburg-Gymnasium, wo die zwei Schauspielerinnen durch die Reihen laufen, über die Tische klettern und zwischendrin sogar Schokolade verteilen.

Der Verlierer wird zum Titelheld, die Geliebte zur Leiche

Die Regisseurin Pina Bergemann hat mit dem Team das Stück entwickelt, das kritisch hinterfragt, welche Stereotypen Büchner aufgewärmt hat. Die Zehntklässler kennen das Drama nicht, dessen Eckdaten schnell erzählt sind: Woyzeck hat nicht nur zwei Jobs, sondern wird für ein Experiment bezahlt, bei dem er nichts als Erbsensuppe essen darf. Er ist ein armer Tropf, der finanziell kaum über die Runden kommt, gedemütigt wird, sein eigenes Gefühlswirrwarr nicht im Griff hat und seine Frau schließlich umbringt. Damit hat er es in der Weltliteratur zum Titelhelden gebracht, während die einzige Funktion von Marie in dem Stück ist, ermordet zu werden.

Hier im Klassenzimmer „ist Woyzeck leider nicht da“, sagen die beiden Schauspielerinnen, werden in dieser Stunde Theater aber auch mal in seine Rolle schlüpfen, um doch sofort wieder in die Gegenwart zu springen – etwa mit einem Quiz: Zwei Teams müssen schätzen: Wie viele Femizide gab es 2023 in Deutschland? Oder was wünschen sich die meisten Frauen, in einer Welt ohne Männer tun zu können? Einfach mal nachts angstfrei durch die Stadt laufen zu können.

Männer werden in dem Stück pauschal als toxisch dargestellt – das gefällt

Nadja Rui und Carmen Yasemin Ipek machen ihre Sache gut und bringen Leben in dieses schmucklose Klassenzimmer. Sie drehen Musik auf – „Baby don’t hurt me no more“. Sie sagen „Es geht nicht um Eifersucht, es geht um Besitz“ und „die Scham muss die Seiten wechseln“. Die Liste der chauvinistischen, teils drastischen Männersprüche, die sie zusammengetragen haben, scheint allerdings kein Ende nehmen zu wollen. „Hey Schnecke, haste Bock?“ oder „Ihr macht mal an euch so rum und ich hol mir einen runter“. Das ist harter Tobak.

Am Ende ist klar: Männer sind Schweine und toxisch, wie es heute heißt. Man könnte meinen, dass sich bei einem so klischierten Männerbild Protest bei den Schülern regen würde, aber im Gegenteil: „Wir kämpfen selbst für die Rechte der Frauen“, sagt ein Schüler hinterher. Solche Jungs wie im Stück beschrieben, gebe es in ihrem Umfeld gar nicht. „Und wenn, wären sie nicht meine Freunde.“

Auch die Mädchen stören sich nicht daran, als schwaches Geschlecht dargestellt zu werden, das sich endlich trauen sollte, auch mal „in der Bahn laut zu sein.“ Es sei zwar sehr zugespitzt gewesen, meint eine 15-Jährige, „aber ich habe schon das Gefühl, dass wir eine patriarchale Gesellschaft haben.“ Eine ergänzt: „Dass einem so Sachen hinterher gerufen werden, erlebt man schon.“

Begeistert von der Klassenzimmerproduktion

Diese zehnte Klasse ist begeistert von der Klassenzimmerproduktion. „Perfekt, richtig lustig“, fanden sie es und „voll gut, dass das ernste Thema verständlich gemacht wurde.“ Hier im Wagenburg-Gymnasium ist die Botschaft des Jungen Ensembles Stuttgart also bestens angekommen. In den kommenden Wochen und Monaten werden Nadja Rui und Carmen Yasemin Ipek an anderen Schulen in der Region gastieren.

„F*** you, Woyzeck“ wurde bisher vor allem von Gymnasien gebucht, wobei das Team während der Proben auch schon in anderen Schultypen einen Testlauf gemacht hat.

Was sie erwartet, das wissen die beiden Schauspielerinnen vorab nie so genau. Ihnen mache es Spaß, direkt in Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern zu gehen, erzählt Nadja Rui, „aber man erlebt schon sehr unterschiedliche Kaliber“.

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Erstellt:
11. März 2025, 17:18 Uhr

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